Fußball und Musik – das passt. In den Stadien dieser Welt wird gesungen, geklatscht, gegrölt. Was steckt hinter Fangesängen und wie entstehen diese? Einblicke in 90 Minuten Fußballstadion. Fernab vom Kommerz, mit puren Emotionen und brennender Leidenschaft in der Kehle.
Es geht die letzten Stufen hinauf. Mit Bratwurstsemmel und Bier im Plastikbecher in der Hand eröffnet sich ein Anblick voller Glückseligkeit für jeden Fußballfan. Der nasse Rasen glänzt saftig grün im Flutlicht. Leichter Nieselregen fällt herab, die Luft ist gefüllt von Gesprächen, Erwartung und Anspannung. Die Zuschauerränge füllen sich. Hinter dem Tor werden am Zaun die Banner der Fanclubs angebracht. Der Sitzplatz ist gefunden und schon erklingt die Vereinshymne. Die Schals werden hochgehalten, bei den Red Devils in Manchester ist es „Glory, Glory Man United”, in München erklingt auf Giesings Höhen „Weiß-Blau TSV” und in Mailand im San Siro brüllt das ganze Stadion den Refrain von „Sarà perché ti amo”. Gesungen, voller Leidenschaft aus der Kehle heraus, während die modernen Gladiatoren mit den Einlaufkindern auf das Feld marschieren.
„Oft sind die Fangesänge in Europa von Schlager- oder Popmelodien inspiriert”, sagt Pascal Claude. Seit 2012 pflegt der Schweizer mit 45football.com eine Datenbank für 7”Singles mit musikalischen Liebeserklärungen an Vereine und Clubs aus aller Welt. Wöchentlich kommt mehr dazu. „Dagegen sind im südamerikanischen Raum oft Sambas, Bossas oder Tangos sowie auch Märsche der Ursprung für Lieder oder Fangesänge.” Die Gesänge unterhalb des Äquators seien so von viel Pathos und Stolz geprägt. Auf einen Militärmarsch geht auch die Hymne der Boca Juniors zurück, die jede Woche im prall gefüllten La Bombonera in Buenos Aires gespielt wird. „In England, dem Mutterland des Fußballs, steht die Unterhaltung im Vordergrund. Jeder Song muss hier sowohl im Stadion vor Anpfiff, als auch in der Siegesfeier nach dem Spiel im Pub funktionieren” , so Claude. „Allez, Allez, Allez”, „Football is Coming Home”
Anpfiff – Giuseppe Verdi und Pippi Langstrumpf von den Rängen
Der Ball rollt, volle Konzentration auf das Spielgeschehen und die Ansagen des Vorsängers. Der Stehblock fängt an, im Takt zu hüpfen, die Tribüne bebt. Einsingen mit „Olé, Olé SG Dynamo, SG Dyyynamooo”. Oder auch, Einsingen mit dem Triumphmarsch aus Giuseppe Verdis Oper „Aida“, wie es der Musiksoziologe Reinhard Kopiez ausdrücken würde. Dieser stand bereits in den 1990er Jahren im Block, um die Typologie des Fangesangs auszumachen. Damit sich ein solcher etablieren könne, so Kopiez, muss dieser eine einstimmige Melodie sein, die jedem bekannt und leicht reproduzierbar ist. So hat sich auch das Titellied zur Kinderserie „Pippi Langstrumpf” im festen Repertoire der Gesänge in den deutschen Stadien eingenistet. (Wer hat die Serie schon nicht geschaut?)
„Schala la la la la la la la, Hey Eintracht Frankfurt, Schala la la la la la la la”
Ebenso essentiell: Die Wiederholung von Silben und rhythmisches Klatschen. Einfache und verbindende Elemente für Zehntausende von Fußballbegeisterten.
„Zieht den Bayern die Lederhosen aus, Lederhosen aus!”. Ein Klassiker, inspiriert von einem anderen Klassiker, dem „Yellow Submarine” der Beatles, schallt durchs Stadion. Geht immer, aber… Karma schlägt zu…
Flanke von links, Kopfball, Tor! Das Stadion verstummt, mit einem Rückstand geht es in die Halbzeit und die Boxen der Anlage bestimmen für 15 Minuten die Atmosphäre, während die Kehlen mit Bier geölt werden.
Halbzeit – Zeit für ein Bier und (hoffentlich) nicht Helene Fischer
Während es in der Kabine kracht, werden draußen zur Beruhigung der Gemüter sanfte Refrains und Rhythmen gespielt. Auf dem Feld werden Bälle gekickt oder die Halbzeitshow in größter Eile vorbereitet. Neben dem Torwandschießen oder ähnlichem Spiel ist es dabei oft eine „lokale Musikgröße aus der Region”, wie Pascal Claude, der Sammler der Fußballsongs, es nennt, die für alle Geschmäcker am ehesten vereinbar ist. In Oberbayern die Goaßlschnalzer, in Belgien oder Frankreich erklingen neue Interpretationen der Vereinshymne mit Akkordeon oder Heimorgel, in Spanien oder Argentinien gar ganze Tanzorchester bei besonderen Spielen. Doch manchmal werden diese Acts schlicht und einfach ausgebuht. Glatt geschliffene Hochglanz-Live-Shows passen einfach nicht ins Fußballstadion. Hier herrscht die saftige Blutgrätsche, nicht die geschwungenen Tanzeinlagen.
Die Spieler kommen wieder auf den Rasen und bereiten sich auf den Kampf in der zweiten Hälfte vor.
Die 2. Hälfte beginnt – Zeit für Triumph oder Selbstironie
Der Ball rollt wieder, die Fahnen werden geschwenkt und auf den Rängen sprudelt die Energie. Jetzt alles geben! Die Mannschaft anfeuern und sich selbst feiern, das ist die Devise – gerade bei erfolgsverwöhnten Mannschaften. Fast alle Gesänge entstehen aus der reinen Spontaneität oder der Emotion heraus, schreibt der Musiksoziologe Kopiez. Die einzige tonangebende Instanz sind die Vorsänger, auch “Chantleader” genannt. Diese verfügen meist…das zweite Tor für den Gegner fällt, scheiße…über ein größeres Liederrepertoire. Kommerzielle Songs dagegen finden im Fanblock selten bis überhaupt keinen Anklang. Das ist auch richtig so, denn die meisten Lieder entstehen aus der Fanszene heraus. Gerade wegen ihres spezifischen Charakters bei der regelmäßigen choralen Darbietung im Heimstadion werden diese so hochgehalten.
Wird das noch was heute mit dem Sieg? Soll nochmal Hoffnung aufkeimen, dass es endlich mal wieder mit einem Sieg… das dritte Tor fällt… ach komm, hör mir auf. Zeit für selbstironische Lethargie. Auch fester Bestandteil des Repertoires, gerade im Anhang von Teams, die chronisch verlieren. Wenn nichts mehr hilft, dann einfach:
„Wir sind Schalker, asoziale Schalker, schlafen unter Brücken oder in der Bahnhofsmission!”
„Dass wir Chemiefans sind, das weiß ein jedes Kind, wir stinken meilenweit gegen den Wind. Das kommt vom Achselschweiß und auch vom fett’gen Haar, die letzte Dusche gab’s im Meisterjahr.”
Abpfiff – Das Wir-Gefühl steht über allem
Weltweit gibt es Millionen Fangesänge, jeder Verein hat seine Lieder. Es kommen neue Kompositionen dazu, manche geraten wieder in Vergessenheit. Mit diesen kommen Freude und Leid, Stolz und Schmach, Freundschaft und Hass gegen Verbände und andere Vereine, Emotionen und Leidenschaft zum Ausdruck. Die Geschichte des Vereins oder ganz besondere Eigenschaften der Fans – viele Faktoren fließen mit ein in die Entstehung der Gesänge. Doch am Ende erzeugen diese vor allem eins: Starken Zusammenhalt. Ein Wir-Gefühl. Gemeinsam siegen, gemeinsam verlieren. Gemeinsam leiden, schreien, fluchen, jubeln Zehntausende und singen, grölen, klatschen zu den Liedern.
Die drei Punkte sind weg und die Enttäuschung nach 90 Minuten ist groß. Leise Klavierakkorde, sanfte Drums erklingen.
When you walk through a storm
Hold your head up high
And don’t be afraid of the darkAt the end of a storm
There’s a golden sky
And the sweet silver song of a lark
Was denkst du?
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