Musik begleitet den Menschen seit den ersten Zeichen der Zivilisation. Aber wie gestaltete sich diese Kunstform in vergangenen Kulturen? Und woher kommt unser heutiges Verständnis von Musik? Ein Essay über die Musik der Antike.
Keine Kunstform ist wohl so allgegenwärtig wie die Musik. Woher kommt Musik eigentlich? Wie kam der Mensch darauf, seine Stimme zu modulieren, Instrumente zu bauen, Musik zu machen?
Die Antwort auf diese Frage fällt schwer. Denn Stimmbänder, hölzerne Instrumente und sonstige Dokumente der frühesten Musik überdauern nur äußerst selten die Jahrtausende. Erste Anhaltspunkte für das menschliche Verständnis von Musik als Teil des soziokulturellen Lebens bieten jedoch die erhaltenen theoretischen Traktate, Grabbeigaben und künstlerischen Darstellungen der griechischen und römischen Antike. Sie ermöglichen es, Schlüsse zu ziehen über die Rolle der Musik in einer der ältesten Gesellschaften, über die wir umfassendes Wissen verfügen.
Materielle Grundlagen
Ein erstes interessantes Merkmal antiker Musik ist, dass diese sehr auf die Stimme zentriert war. Instrumente wurden als Begleiter von Gesang betrachtet und weniger als eigenständige Klangkörper. Rein instrumentale Musik war so eine seltene Erscheinung. Dies könnte an der engen Verbindung von textuellen und musikalischen Vorstellungen liegen. Denn Dichtung wurde nicht als das Aufschreiben und Lesen von Texten verstanden, sondern meistens im Sprechgesang vorgetragen. Das galt für epische Gedichte wie Homers‘ „Ilias” und „Odyssee”, aber auch für Theaterstücke, bei denen zudem der Chor als tragendes Element diente. Tatsächlich umfasste der griechische Begriff mousike, aus dem sich unser Wort entwickelt hat, den Text genauso wie seine Intonation. Das Resultat der Ausrichtung antiker Musik auf sprachliche Elemente war eine einzigartige rhythmische Tradition. Sie entwickelte sich nicht entlang der heutigen Takte oder beats per minute entwickelte, sondern nutzte als Basis die Betonung einzelner Silben und die von der Dichtung vorgegebenen Versmaße. Diese enge Verbindung zwischen musikalischer Darbietung und Poesie lässt sich heute noch im Wort Lyrik, also von der lyra begleitet, nachvollziehen. Dabei ist auch erkennbar, dass Instrumente trotzdem eine wichtige Rolle in antiker Musik spielten.
Antike Instrumente lassen sich in die Kategorien Saiteninstrumente, Blasinstrumente und Perkussionsinstrumente einteilen. Obwohl ein fundamentaler Bestandteil des antiken Verständnis von Musik der gezielte Einsatz bestimmter Rhythmen war, kamen Perkussionsinstrumente nur selten zur Geltung. Wichtiger waren Saiten- und Blasinstrumente. Die am weitesten verbreitete Form der Saiteninstrumente war hierbei die kithara: eine größere, hölzerne Form der klassischen Leier. Die Kithara wurde der Sage nach von Gott Apollo aus einem Schildkrötenpanzer geformt und meist im Sitzen gespielt. Der massive hölzerne Resonanzboden ruhte dabei auf dem Schoß, zwei aufragende Hörner hielten ein Holzstück, an dem die Saiten befestigt waren. Das Instrument ist, zumindest etymologisch, der Vorgänger der heutigen Gitarre.
Die Kithara, wie auch andere, kleinere Saiteninstrumente, war eher ein Instrument des persönlichen Raumes. Anderes gilt für das prominenteste Blasinstrument, den aulos. Der Aulos besteht aus zwei flötenähnlichen zylindrischen Klangkörpern, die zum Spielen gleichzeitig in den Mund genommen werden. Moderne Rekonstruktionen haben gezeigt, dass der Klang des Aulos allerdings mehr einem Dudelsack als einer Flöte ähnelt. Auli waren, vielleicht aufgrund der etwas lauteren, schrilleren klanglichen Eigenschaft, das Instrument der Wahl bei der Begleitung von religiösen und säkularen Prozessionen sowie des Chores im Theater.
Settings der antiken Musik
Wenig überraschend war Musik fester Bestandteil religiöser Riten, von Prozessionen im Dienste der Götter oder der Gemeinde, und Hochzeitsfeiern genauso wie Beerdigungen. Das vielleicht älteste erhaltene Lied, das Seikilos-Epitaph, ein kurzes Gedicht mit musikalischer Notation, wurde auf einem Grabstein gefunden und wohl bei dem Bestattungsritus des Begrabenen vorgetragen. In diesem Rahmen wurde zur Musik oftmals auch getanzt. Solche Prozessionen waren ein gesamtgesellschaftliches Event, und die Performer waren in vielen Fällen Amateure sowie Mitglieder der Gemeinde, die eigens für die Prozessionen Chöre und Ensembles bildeten. Dabei gab es einzelne „Musikgruppen” nach Alter und Geschlecht, die in den Ritualen verschiedene Aufgaben hatten. Dieses diente dabei nicht nur als Schauplatz dramatischer Vorstellungen, sondern auch als Bühne für musikalische Wettkämpfe. Zunächst konzentrierte sich das Geschehen größtenteils auf das Theater. Die Musik diente hier zur Akzentuierung und emotionalen Untermalung des Geschehens. Am Anfang spielten diese auf der Bühne noch Amateure, doch im Laufe der Jahrhunderte kam es zunehmend zu einer Professionalisierung der Musiker:innen im Laufe der Jahrhunderte. Mit diesen Entwicklungen entstanden schließlich auch musikalische Wettkämpfe, die in den Amphitheatern ausgetragen wurden. Bei diesen fand ein reger Austausch regionaler Stile, Rhythmen und Instrumente statt.
Die Musik spielte also in vieler Hinsicht eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Leben und bildete bereits bei der Erziehung einen wichtigen Bestandteil. So sollte diese gerade bei aristokratischen Jungen und Mädchen die Moral, Ausgewogenheit und das innere Glück fördern, wie aus schriftlichen Quellen hervorgeht. Dabei lernten die Jugendlichen oft die Kithara. Auf sogenannten Symposia zeigten sie ihre Fähigkeiten an den Saiten und spielten vor Publikum. Aber die zunehmende Professionalisierung von Musiker:innen hatte auch Auswirkungen auf diese Praxis: Ab dem 4. Jhd. v. Chr. wurden Sklaven und Sklavinnen, angestellte Musiker:innen und Hetären häufiger mit der musikalischen Unterhaltung beauftragt. Musikalische Erziehung zielte nun eher auf theoretisches Wissen als auf praktisches Können ab. Außerhalb aristokratischer Sphären ist über die Rolle von Musik im privaten Raum aus den Quellen weniger herauszufinden. Die Leier als niederschwelliges Gegenstück zur hölzernen und massiven Kithara könnte ein Hinweis auf Musik in anderen Gesellschaftsschichten sein. Zudem wird öfters das Spielen vom Blasinstrument syrinx zur Belustigung von Schäfer:innen während der Weide ihrer Schafe erwähnt. Musik existierte also auch im Privaten.
Gesellschaftliche Rollen antiker Musik
So war die soziale Rolle von Musik im antiken Griechenland sowie römischen Imperium stark von den streng hierarchischen und ausgrenzenden Gesellschaftsbildern geprägt. Bei Theatervorstellungen waren entweder nur Männer mit Bürgerrecht zugelassen, oder das Publikum wurde von der Bühne ab nach Rang, Geschlecht und Status gestaffelt.
Doch wer durfte überhaupt Musik machen? Bei öffentlichen Veranstaltungen des fünften Jhd. v. Chr., wie bei den Symposia oder den musikalischen Wettkämpfen, waren bürgerliche Mädchen und Frauen als Amateurinnen ausdrücklich erwünscht. Diese spielten auch für ein männliches Publikum – während soziale Randgruppen davon kategorisch ausgeschlossen waren.
Die Stellung der Frauen in der antiken Musikkultur
Frauen waren in der Antike definitiv musikalisch vertreten. Musikalische Erziehung war nicht nur Jungen vorbehalten. Bei bestimmten Theatervorstellungen wirkten Musikgruppen mit weiblichen Mitgliedern mit: So konnten Frauen sogar zu professionellen, anerkannten Musikerinnen werden, die ihre eigene Dichtung vertonten, Wettbewerbe gewannen und Männer in ihrer Kunst unterrichteten. Das wohl bekannteste Beispiel ist Sappho, die griechische Dichterin auf der Insel Lesbos. Als solche Professionelle waren Frauen vereinzelt auch Solistinnen an Instrumenten im Theater, an Stellen, die thematisch eine weibliche Melodie benötigten. Während diese Möglichkeiten der Vorstellung mit männlichem Publikum nur bürgerlichen Frauen offenstanden, wurden Sklaven und Sklavinnen, insbesondere aber Hetären (gesellschaftlich anerkannte Prostituierte) im privaten Raum von den Hausherren bei Symposia als Musiker:innen angestellt. Vorführungen mit rein weiblichem Publikum waren in allen Gesesellschaftsgruppen komplett normalisiert, erst beim Mix der Geschlechter wurden moralische Bedenken wach. Frauen werden im privaten Raum genau wie Sklavinnen bei privaten Symposia vermehrt mit Harfen und anderen Saiteninstrumenten dargestellt, die möglicherweise wegen ihres asiatischen Ursprungs als feminin gesehen wurden. Im Gegensatz waren Auli eher für Männer, da die Blasbewegung der Backen als zu gesichtsverzerrend und unästethisch angesehen wurde. Im Kontext der Symposia war Musik auch stark erotisch konnotiert, die Musiker:innen dienten als Unterhalter:innen und auch Prostituierte.
Bürgerliche Frauen wurden über die Jahrhunderte mehr und mehr in ihrem musikalischen Handeln eingeschränkt – ob als Gegenreaktion auf diese moralisch fragwürdigen Konnexe, ist unklar. In der Endphase der Römischen Republik wurden musikalisch besonders begabte Frauen als unmoralisch, verführerisch und hinterhältig charakterisiert, selbst musikalisches Wissen galt als Zeichen eines zu ungezügelten Lebensstils. Die Frauen, die diese Normen durchbrachen, waren gleichzeitig verpönt und begehrt, Objekt patriarchaler Verurteilung und Subjekt sexueller Anziehungskraft. Diese moralischen Diskurse führten unter anderem dazu, dass Musik mehr und mehr in die Sphäre der unfreien und gesellschaftlich geächteten Klassen fiel, deren moralische Lebensführung der herrschenden Klasse egal war. Im späteren Kaiserreich gibt es zwar noch Dokumente augenscheinlich musikalisch begabter Frauen, ihre Begabung wird aber ausdrücklich auf die sittliche Liebe zu ihren Ehemännern bezogen und nicht auf musikalische Früherziehung. Somit spiegelt die Beziehung der römischen Frauen zur Musik auch ihre breitere, gesellschaftlich geforderte Unterordnung gegenüber ihres Mannes und gefestigte Sittlichkeit wider.
Gesellschaftlicher Nutzen antiker Musik
Musik war natürlich Mittel der Kritik an Herrschenden wie umgekehrt der Selbstdarstellung ebenjener. Sie wurde auch in künstlerischen Darstellungen als Vehikel der Propaganda und umgekehrt zur Untergrabung von herrschaftlichen Narrativen instrumentalisiert. Zur Hochzeit der Theaterwelt in Athen, dem kulturellen Zentrum der hellenistischen Welt, war die Bühne Schauplatz der politischen und kulturellen Diskussionen Mit den Dramen und ihrer musikalischen Begleitung fanden zu dieser Zeit die empfundenen Fehlentwicklungen in der Gesellschaft Athens metaphorischen Ausdruck. Währenddessen wurde besonders zur römischen Kaiserzeit das Schauspiel der Pantomime beliebter, und Theaterstücke wurden entweder auf Basis der Vorbilder aus Athen gespielt oder kulturell irrelevant.
Als Indikator regionaler Unterschiede, die mit den wachsenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Verbindungen langsam verschwanden, war Musik im antiken Griechenland auch ein Politikum zwischen verschiedenen Regionen. Sprachliche Differenzen in der Betonung bestimmter Wörter durch griechische Dialekte führten zu verschiedenen rhythmischen Traditionen, die mit den Wettkämpfen in ganz Griechenland und der Hegemonie des attischen Theaters langsam verschwammen, und somit gegen Ende des vierten Jhd. v. Chr. als eine geeinte, griechische Musik zu Vorschein traten. Die Hellenisierung, die die Römische Republik in ihrer Blüte und vor allem nach der Eroberung Griechenlands erlebte, transportierte diese Musik nach Rom, wo sie sich den dortigen Geschmäckern anpasste. So wurden zum Beispiel in Rom Perkussionsinstrumente mehr benutzt.
Die Bedeutung von Mousike
Klar wird: Musik war auch in der Antike allgegenwärtig. Musik war ein soziales Produkt, welches sich dementsprechend den gesellschaftlichen Entwicklungen anpassen musste, aber auch Hierarchien und Normen widerspiegelte und sogar formte. Die Musik nahm also schon vor über 2000 Jahren eine so vielfältige, wichtige und auch kontroverse Rolle im Leben der Menschen ein. Der große menschliche Drang, Musik zu machen, zu hören und natürlich über diese nachzudenken war immer schon da. Damals wie heute.
Samuel Kopp
Februar 5, 2024 / at 1:29 am
Ich danke für diesen ebenso interessanten wie kenntnisreichen Artikel, auf den ich dieses Wochenende freundlicherweise von Balthasar und Christopher aufmerksam gemacht wurde – in unserer Diskussion zu diesem Thema musste ich schließlich eingestehen, dass sich die Alten Griechen als Begründer der klassischen Antike ja vieler Dinge im kulturellen Bereich rühmen dürfen, nicht jedoch der Erfindung der Musik (wohl aber der Musiktheorie). Dies noch etwas genauer und nachvollziehbarer auszuführen möchte ich hier die Gelegenheit nutzen: Meines Wissens reicht die Erfindung der Musik nämlich derart weit in die prähistorische Ära zurück, dass wir durch Funde auf der Schwäbischen Alb von Musikinstrumenten aus dem Aurignacien (ca. 40.000 Jahre v. u. Z.) wissen, also einer Zeit nicht lange nachdem der erste anatomisch moderne Mensch überhaupt nach Mitteleuropa vorgedrungen war. Dies beweist konkret die Existenz einer erstaunlich gut erhaltenen, aus einem Flügelknochen eines Gänsegeiers (der heute auf der Schwäbischen Alb leider ausgestorben ist) gefertigten Flöte, gefunden 2008 im Hohle Fels bei Schelklingen (wo auch die berühmte Venusfigur herstammt) und heute ausgestellt im Urgeschichtlichen Museum zu Blaubeuren. Bemerkenswert finde ich, dass aus ebendieser Zeit auch der berühmte Ulmer Löwenmensch stammt, seines Zeichens die erste bekannte Darstellung eines Fabelwesens, und daher diese früheste uns greifbare Kulturschöpfung durch den Menschen schon alle Aspekte enthielt, die für uns auch heute noch kulturelles Erleben ausmachen (dass neben der Musik und der Bildenden Kunst auch Sprachkunst bereits existierte, setze ich einfach mal voraus, auch wenn sich das wohl nie durch Fundstücke beweisen lassen wird, denn die Worte hätten, um zu überdauern, ja der Schrift bedurft). Doch zurück zur Gänsegeierknochenflöte: Dass aus dieser auch für heutige Ohren einigermaßen akzeptable Töne herauszubekommen sind, auch wenn der Musikgeschmack vor 40.000 Jahren ein gänzlich anderer gewesen sein mag, hat unter anderen Anna Friederike Potengowski im Rahmen ihres Projekts „The Edge of Time“ nachgewiesen (Hörproben unter: https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/the-edge-of-time-palaeolithic/hnum/6468837). Insofern könnte man fast geneigt sein, der klassischen Antike auf dem Gebiet des Instrumentenbaus eine für sie außergewöhnliche Innovationsarmut zu unterstellen, die freilich dadurch mehr als wettgemacht wird, dass zur Musik rappende Aoiden und Rhapsoden mit den homerischen Epen der abendländischen einen unübertroffenen Auftakt bescherten. (Und wer wollte das von ihren heutigen Berufsepigonen erwarten?)
ps: Der Plural von Aulos ist bitte Auloi, wenn wir die griechische Sprache nicht gewaltsam latinisieren möchten. 😉