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Auto-Tune, Jason Derulo und die magischen Handschuhe

24. Juli 20256 Min. gelesen

Mit ihrem Album „Speak for Yourself“ hat Imogen Heap oft übersehene Spuren in der Popmusik hinterlassen. Verfolgt man diese zurück, stößt man auf vergessene Popstars, skurrile Musikinstrumente – und auf die Frage, warum Imogen Heap plötzlich wieder erfolgreich ist.

Es gehört zu den Ironien der Musikgeschichte, dass der vielleicht originellste Pop-Song des 21. Jahrhunderts ausgerechnet mit Jason Derulo in Verbindung gebracht wird – einem Musiker, für den „originell“ ehrlicherweise kein besonders treffendes Attribut ist. Doch seitdem Derulo 2009 seinen Hit „Whatcha Say“ veröffentlicht hat, gehört der Refrain: „Mmm, whatcha say? Oh, that you only meant well? Well, of course, you did.” zumindest im Bewusstsein vieler Hörer:innen ihm. Dabei war es die britische Sängerin und Produzentin Imogen Heap, die diese Zeilen schrieb und 2005 auf ihrem A-cappella-Stück „Hide and Seek“ mit einer Vocoder-getränkten Stimme vortrug. Derulo verwendete dann ein Sample dieses Songabschnitts als Refrain – ohne die von Imogen Heap intendierte Bedeutung darin ansatzweise zu reflektieren.

Ein Pop-Meisterwerk und was daraus wurde

„Hide and Seek“ landete auf dem zweiten Album der Britin, „Speak for Yourself“, welches vor wenigen Tagen 20 Jahre alt wurde. Heap verarbeitet darin vermutlich die Scheidung ihrer Eltern. Sie schreibt aus Sicht eines Kindes, das in seiner emotionalen Überforderung die Szene nicht richtig greifen kann. Versteckspiel, abgehängte Familienbilder. Visionen und Erinnerungsfetzen ergeben das verschwommene Bild einer Kindheit, die plötzlich und frühzeitig endet. Die beschwichtigenden Worte der Eltern sind leere Worte, gebrochene Versprechen. Imogen Heaps Gesang ertönt durch einen Gesangsfilter, nur ein Synthesizer begleitet sie. Ihre Stimme steigt und fällt, scheint zwischenzeitlich fast zu brechen. Sie klingt durch die elektronische Manipulation benommen und entfremdet, wie ein hilf- und orientierungsloses Kind.

All diese Bedeutungen müssen in Jason Derulos „Whatcha Say“ den Plattitüden eines anmaßenden Trennungsliedes weichen. Die Erzählung geht ungefähr so: Baby, ich hab‘ dich zwar betrogen, aber ich bin bald ein Star und hab’ Geld, also komm zurück! Zuvor noch diente „Hide and Seek“ als musikalische Hintergrundkulisse für das zweite Staffelfinale des Teen-Dramas O.C. California. Das Lied hat also eine lange Geschichte mehr oder weniger geglückter Neu-Kontextualisierungen hinter sich.

Wie Imogen Heap mit ihrer Produktion neue Maßstäbe setzte

Doch auch darüber hinaus ist der Einfluss von Imogen Heaps feinsinnigem Pop-Experiment spürbar. Pitch-shifting und Gesangsfilter sind im heutigen Pop allgegenwärtige künstlerische Werkzeuge. Spätestens Ende der 2000er etablierte sich Auto-Tune als Mittel der Tonhöhenkorrektur und sollte auch auf kreative Weise genutzt werden. Kanye West, James Blake, Bon Iver: Sie alle haben vielfach mit Gesangsmanipulation gearbeitet, um Verfremdung und Entmenschlichung auszudrücken. Seitdem haben Hyperpop-Künstlerinnen wie SOPHIE und Charli XCX das Spiel mit der menschlichen Stimme auf die Spitze getrieben und so neue musikalische Horizonte eröffnet. Imogen Heap hat die Gesangsmanipulation zwar nicht erfunden – doch sie leistete durch deren empathischen und metaphernreichen Einsatz Pionierarbeit im Pop.

Das zeigt sich zwar besonders auf „Hide and Seek“, dem Kernstück des Albums. Doch auch die restlichen Songs auf „Speak for Yourself“ triefen dank Imogen Heaps farbenfroher Produktion vor spielerischem Charakter. Das üppige und vielschichtige „Headlock“ ist ein eindrückliches Beispiel: Das Funkeln eines Vibrafons, das Summen eines Keyboards und die anschwellenden Streicher-Arrangements entladen sich in einem explosiven Refrain. Orchestrale Elemente und Rock-Einflüsse färben die Kompositionen dieses Albums und treffen immer wieder aufeinander. Das ätherisch leichte „Just for Now“ ist ein ähnlich charmantes Beispiel dafür wie die romantische Electropop-Ballade „Goodnight and Go“.

Imogen Heap ist wieder beliebt – oder: Wie sich Geschichte wiederholt

Die anfängliche Rezeption von „Speak for Yourself“ war zwar eher gemischt. Doch mit der Zeit hat dieses Album einen gewissen Kultstatus erhalten – vor allem aufgrund von Heaps visionären Produktionstechniken. Für ihren innovativen Einsatz von digitalen Technologien wird die Britin in der Musikindustrie zutiefst geschätzt. Insofern bleibt Imogen Heap eine Nischenpersönlichkeit im Pop. Seit elf Jahren hat sie kein neues Album veröffentlicht – dafür hat sie ein spezielles Musikinstrument entwickelt: Handschuhe, die mit zahlreichen Sensoren ausgestattet sind und Handbewegungen zu musikalischen Klängen verarbeiten.

Tatsächlich ist auch Imogen Heaps Frühwerk momentan wieder hoch im Kurs. Die Single „Headlock“ hat es 20 Jahre nach ihrem Erscheinen als erster Song der Künstlerin sogar in die US-amerikanischen Charts geschafft. Wie es dazu kam? Ausschnitte des Liedes sind massenhaft in TikTok-Clips für Edits des Horror-Videospiels Mouthwashing verwendet worden. Wieder einmal wird also die Musik auf „Speak for Yourself“ radikal neu kontextualisiert. Imogen Heap scheint sich über ihren zweiten Frühling zu freuen. In einem kurzen Handyvideo nahm sie die Popularität von „Headlock“ zum Anlass, um zum Hören des dazugehörigen Albums zu ermuntern. Sie taggte sogar das besagte Videospiel.

Felix Meinert - Redaktion

Schon mit fünf Jahren war ich musikalisch begeistert: Damals trat ich mit meiner Fantasieband vor meiner Familie auf, sang (besser: schrie) auf meiner Fantasiesprache und trommelte mit Plastikstöcken unkontrolliert auf meinem Hüpfball herum. Da der ersehnte Durchbruch aber ausblieb, tobe ich mich heute lieber beim Hören und Schreiben aus. Oft feuilletonistisch, gerne nachdenklich bis nörglerisch, stets aber von Herzen schreibe ich über so ziemlich alles zwischen Rock, Pop, Folk, Hip-Hop, Jazz und elektronischer Musik.

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