Das Jahr neigt sich dem Ende zu – doch mit mehr freier Zeit geht auch mehr Zeit zum Alben-Entdecken einher. Das Team von Frequenz stellt ihre und seine liebsten, meistgehörten, eventuell auch totgehörten Alben vor. Viel Spaß beim Stöbern!
Illustration: Zongqi He
Das sagt Annika:
- Lawrence – „Family Business”
Eindeutig das Album des Jahres für mich. Und dabei meine ich besonders die Acoustic Version. Die Geschwister Lawrence schaffen es, mit Soul, Funk und Pop Musik zu kreieren, die auch Licht in die dunkelsten Momente bringt. Hier scheinen nicht nur jazzige Blechbläser und Bässe, sondern ebenfalls Leichtigkeit und Spaß durch. Die mehrköpfige Band ist so vielfältig, wie sie talentiert ist. Sängerin Gracie Lawrence überzeugt währenddessen mit ihrer Vibrato-starken Stimme. Meine Favoriten „Whatcha Want“, „I’m Confident I’m Insecure“ oder „23″ können nicht nur auf Dauerschleife laufen, sondern sollten bestenfalls einmal live erlebt werden – die begeisterte Stimmung unter scheinbar auch begeisterten Musiker:innen muss dabei unmatched sein.
- Saint Levant – „Deira„
Es war das beste, lebendigste Konzert, auf dem ich je war. Und ich war auf einigen Konzerten. Der palästinensische Künstler Saint Levant hat mich gefesselt, hat mich in die Welt der arabischen Musik eingeführt – und ich könnte ihm dankbarer nicht sein. Seine Songs singt er auf Englisch, Französisch und Arabisch, viele Rhythmen laden zum Tanzen ein. Doch die Melodik des Albums soll nicht vom eigentlichen Inhalt ablenken: Auf dem Cover steht er vor dem ehemaligen, nun zerbombten Hotel seines Vaters. Darin liegt auch der Fokus des Albums: Saint Levant beschreibt nicht nur Hoffnung, seine Liebe und Sehnsuchtsgefühle nach seinem Heimatsland, er legt den Fokus besonders auf die humanitäre Katastrophe und Bombardierung in und von Gaza. In „Deira“ geht es um Leid, Trauer, um Vertreibung und Rückkehr.
- Cat Burns – „Early Twenties“
Lange habe ich auf das Album gewartet, lange hatte ich mich mit der zuerst veröffentlichten EP zufrieden gegeben. Cat Burns zeigt sich auch dieses Mal gekonnt mit lyrischem Talent, sie singt von wegbegleitenden Angstsituationen, Unsicherheiten oder kleine wie große Einsamkeit. Es fühlt sich roh an, ehrlich, verletzlich. Dass Burns eben Gedanken und Gefühle thematisiert, die in meinem Alter geradezu perfekt auf Resonanz treffen, erklärt einiges. Dass ihre Musik gleichzeitig nach Gospel und Indie schmeckt, ergibt wiederum Sinn. „Early Twenties“ ist nicht nur eine Hommage an das Älterwerden und Allem, was das mit sich bringt. Es zeigt Zuversicht und blickt mit wachem Blick nach vorne.
Felix ist eher der Meinung:
- Hurray for the Riff Raff – „The Past Is Still Alive”
Auf „The Past Is Still Alive” öffnen sich Fenster in die Vergangenheit. Mal hat Alynda Segarra diese Vergangenheit selbst erlebt: als Teenager, der von zu Hause ausgerissen ist, durch die USA trampt und sich vor der Polizei versteckt. Mal sind Segarras Erinnerungen fiktiv, wie auf dem Stück „Colossus of Roads“, das eine schicksalshafte Begegnung in einem Moment menschenverachtender Gewalt beschwört. Sowohl die realen als auch die ausgedachten Erinnerungen erscheinen durch Segarras einfühlsame Poesie lebendig, wie intime Porträts inmitten von politischem Chaos. Auch Segarras vielköpfige Band trägt zur wunderbaren Wärme dieses Folk-Albums bei: Melancholische Pedal-Steel-Gitarren, treibendes Saxofon und zurückhaltendes Klavier verleihen Hurray for the Riff Raffs erdigem Americana seine Seele.
- Mustafa – „Dunya“
Mit seinen 28 Jahren hat Mustafa bereits viel Verlust erlebt. Sein älterer Bruder wurde vergangenes Jahr in Toronto erschossen. Ein enger Freund von ihm, Palästinenser, hat sich in seinem kriegsgeplanten Alltag emotional von ihm und der Außenwelt im Allgemeinen entfremdet. Diese beiden Schicksale beschreibt Mustafa auf „Dunya“ mit beeindruckender Empathie. In der souligen Stimme des sudanesisch-kanadischen Singer-Songwriters stecken Schmerz und Versöhnlichkeit zugleich. Mustafa schafft es, sein zwiespältiges Verhältnis zur Religion und zu seiner Heimatstadt Toronto zu dekonstruieren und selbst den Härten der hood eine liebevolle Wärme einzuhauchen.
- Adrianne Lenker – „Bright Future“
Adrianne Lenker reichen auf „Bright Future“ wenige Elemente aus, um tiefe Emotionen zu vermitteln. Meist begleiten nur eine folkige Akustikgitarre und eine melancholische Violine Lenkers verträumten Gesang, hier und da Klavier. Dieses Album klingt gleichzeitig rustikal und heimelig. Die US-Amerikanerin kramt in den Schubladen ihrer Kindheit („Real House“), beschwört bedingungslose Liebe („Free Treasure“) und häuslichen Zwist („Vampire Empire“). Wie eh und je sind ihre Texte einfach, geradlinig und auf entwaffnende Weise ehrlich. „Bright Future“ ist ein großartiges Singer-Songwriter-Album, herzzerreißend und lebensbejahend.
- Mdou Moctar – „Funeral for Justice”
Die Tuareg waren über lange Zeit ein Nomadenvolk. Bis heute leben sie verteilt in der nordafrikanischen Sahel- und Saharazone. Mdou Moctar ist Kind einer Tuareg-Familie und erhält mit seinen drei Bandkameraden deren Traditionen am Leben. Die Band rund um den Gitarrenvirtuosen verbindet den traditionellen Wüsten-Blues der Tuareg mit westlichem Folk und Psychedelic Rock. Mal laut und aufbrausend, mal meditativ verschmelzen auf diesem Album verschiedene Einflüsse und Texturen. Mit stürmischen Riffs, turbulentem Schlagzeug und hymnischen Refrains kämpft Mdou Moctar gegen das Erbe des Kolonialismus und für den Erhalt der eigenen Bräuche.
- Ka – „The Thief Next to Jesus”
Dieses Album schmeckt bittersüß. Nur vier Wochen nach seiner Veröffentlichung, im Oktober dieses Jahres, starb Ka im Alter von 52 Jahren. „The Thief Next to Jesus“ führt all das vor Augen, was den Rapper aus Brooklyn von seinen Zeitgenossen abhebt. Mit kratziger Stimme und scharfen Texten begibt sich Ka auf eine religiöse Sinnsuche und hebt zugleich hervor, wie die Kirche in ihrer Geschichte selbst rassistische Gesellschaftsstrukturen gestützt hat. Bluesige Gitarrenmotive, melancholische Klaviernoten, minimalistische Perkussion, Soul-Samples und Gospelchöre ergänzen seinen Vortrag mit grooviger Präzision. Mit Ka verliert der Rap-Underground einen seiner größten Intellektuellen, einen Pilger auf der Suche nach dem moralisch Richtigen.
Chris ist sich (fast) sicher:
- Yung Lean und Bladee – „Psykos”
Am 13. März erschien eine kleine Überraschung: Yung Lean und Bladee zusammen auf einer Platte, nach mehr als einem Jahrzehnt der Zusammenarbeit. Ebenfalls überraschend ist ihr neuer rockiger Sound, vertraut bleiben dagegen die Ästhetik und Melancholie. Bereits der erste Song „Coda“ trieft vor Schwermut, die Autotune-Stimmen der beiden Rapper schwingen vor ausgedehnten Synths. Lyrisch ist das nicht selten bedrückend, meist auch beeindruckend. Und doch bleibt am Ende von „Things Happen“ vor allem eine hoffnungsvolle Note in Erinnerung.
- poptropicaslutz! – „Face for The Radio/Voice For A Silent Film”
Es ist diese wunderbare Art von Album, von dem man sich wünscht: Hätte ich das doch nur als Teenager gekannt. Wie wäre ich durch die Schulgänge gerannt, mit Liedern wie „bittersweet teeth“ im Ohr. Vielleicht denkt man sich das auch, weil „Face for The Radio/Voice for A Silent Film“ eine absolute Nostalgiebombe ist: Scene-Fans, Punks, Emos (aber eher à la Panic! At The Disco) sowie moderne Hyperpop-Fans finden passendes Spielzeug im diversen Sandkasten des New Yorker Pop-Duos. Das kann wahlweise rebellisch, aufmüpfig, manchmal auch traurig, aber allen voran cool klingen – zum Beispiel auf „Guestlist’r“ und das in simplen eineinhalb Minuten.
- Kirin J Callinan – „If I Could Sing”
Wer denkt, dass Kirin J Callinan hier weniger „Bravado“ als auf der gleichnamigen Platte von 2017 präsentiert, der irrt sich gewaltig. Denn auch sein neustes Album glitzert: Allen voran in seiner Ehrlichkeit und Intimität. Lustig, überraschend und einfach weird, wie man es von ihm gewohnt ist, bleibt es trotzdem allemal. Mit „If I Could Sing“ legt Callinan seine bisher stärksten Texte vor: Zwischen bombastischen Momenten und sich überlagernden Instrumenten verzaubert er mit einem wunderbaren Retrogefühl, unterstützt von stimmigen Vocals.
- Starkids – „G-SPOT”
Kann ein Album, das mit einem Feature von Hatsune Miku beginnt, überhaupt schlecht sein? Japanisch muss man zum Glück nicht können, um die saftigen Beats und schrillen Stimmen der Tokioter Band zu genießen. Dazwischen schieben sich immer wieder englische Fetzen durch das Dickicht der Hyperpop-, Trap- und Hip-Hop Melodien: In der futuristischen Stadt der Starkids vermischt sich alles zu einem sensorischen Knall. Sie prophezeien eine musikalische Zukunft, die zwar schon mindestens seit 2016 zu hören ist, aber man mag ihnen vergeben: Denn nur wenige Alben machen so viel Spaß auf den großen Buchsen.
Balthasar ist sich da sehr sicher:
Polygonia – „Da Nao Tian Gong”
Gleich zu Anfang des Jahres brachte die Münchner Djane Lindsey Wang alias Polygonia eine EP heraus, die mich vom ersten Hören in ganz andere Soundsphären verführte. So wundervoll und zugänglich wirkte dieser Organic Techno auf mich, das ließ mich gar nicht mehr los. Im Interview erfuhr ich dann ihre Begeisterung für die Klänge der Natur und die Geschichte hinter der EP. Diese basiert auf der chinesischen Legende „Da Nao Tian Gong“ sowie einem berühmten Kindercartoon dazu. Den Soundtrack und die Zeichentrickbilder wollte Lindsey in ihrer ganzen Dynamik in der Musik einfangen.
Tomasz Stanko Quartet – „September Night”
Im Ausklang des Sommer dieses Jahres entdeckte ich dann dieses posthume Album des großen, großen polnischen Trompeters Tomasz Stanko. Von seinen Anfängen über Krakau über die kongeniale Zusammenarbeit mit Krzystof Komeda spielte dieser 2004 dieses Konzert in der Münchner Muffathalle. Wie gewohnt bestens abgemischt hört man auf dieser ECM-Pressung nun ein Jazz-Quartet, das so ausgeglichen sanft zusammen harmoniert. Eine mystisch wie poetische Stimmung entsteht hier, getragen vom charismatischen Spiel des Trompeters und Improvisationen, die so sicher und leicht dahinfließen.
Fred Again – „Ten Days”
Einmal ganz von seiner Musik abgesehen ist Fred Gibson alias Fred again auch als Mensch eine große Inspiration für mich. Oft am Lächeln oder entspannt drauf, nimmt man auf Instagram hier einen Menschen wahr, der nie still steht, immer weiter denkt und voll für seine Musik brennt. Im September hörte ich dann „Ten Days“ sein – wohlgemerkt – schon zweites Album dieses Jahr und fühlte mich gleich an seine „Actual Life“-Serie erinnert, die während Corona entstand. Snippets und Stimmen von Freunden mit einem Sound-Storytelling zwischen emotionalen Höhen und Tiefen getragen von den Beats. Diese sind oft dem House oder UK-Garage-Beat verbunden, es sind aber auch Drum’n’Bass Anklänge herauszuhören. Pure Lebensfreude, groovige Stücke oder solche, die sofort in eine Erinnerungsspirale locken.
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