Die Vorwürfe gegen den Rammstein-Sänger sorgen für viel Aufsehen. Doch sexueller Machtmissbrauch hat im Musikgeschäft seit Langem System. Welche Fragen sollten wir uns jetzt stellen und welche Konsequenzen ergreifen?
Von Annika Block und Felix Meinert
Triggerwarning: Sexueller Missbrauch, Machtmissbrauch
„Du bist so hübsch, aber so dumm“: Nur eine von zahlreichen Beleidigungen, die Naomi (22) zu hören bekommt, als sie am 06. Juni 2023 auf der Demonstration vor dem Olympiastadion München ihr Protestschild in die Höhe hebt. „Till Täter“ steht auf diesem – Till, das ist Till Lindemann, Frontmann der Band Rammstein, die im ausverkauften Stadion auftreten wird. Naomi will zeigen, dass sie die Opfer sehe und den Frauen glaube, die den Rockstar Lindemann des Missbrauchs beschuldigen. Es gehe hauptsächlich um Solidarität. Und um Wut. Auch Klara (21), die einige Tage später eine der Demonstrationen besucht, berichtet von einer gemeinsamen Wut gegen ein System des Missbrauchs, das weiterhin Bestand hat.
Von einem Einzelfall kann nicht die Rede sein

Erste Vorwürfe äußert am 25. Mai die Irin Shelby Lynn, die in den sozialen Medien von traumatischen Erfahrungen erzählt. Der Aufschrei geht viral, zahlreiche Frauen, darunter YouTuberin Kayla Shyx, schließen sich Lynn an und berichten von ihren Erfahrungen auf Konzerten der Rockband. Der Hauptvorwurf: Lindemann habe angeblich durch eine inzwischen entlassene Mitarbeiterin, Alena Makeeva, junge Frauen casten und so eine „Row Zero“ – eine Reihe zwischen Bühne und Publikum – bilden lassen. Die teils minderjährigen Mädchen seien von Makeeva angesprochen und auf eine Afterparty eingeladen worden, es war von Spaß und einem Treffen mit Lindemann die Rede. Kein Wort von Sex, kein Wort von einer ausgewählten Rekrutierung. Einige Frauen behaupten, sie hätten sich am nächsten Tag an nichts erinnert und vermuten, dass K.O.-Tropfen im Spiel waren. Alles natürlich nur ein Verdacht, gestützt von zahlreichen Erfahrungsberichten.
Inzwischen hat Universal Music, wohl eher kurz vor knapp, die Beziehung zu Rammstein beendet und der Drummer der Band, Christoph Schneider, ein Statement auf Instagram veröffentlicht. Er distanziert sich von Lindemann und will sich doch sicher sein, dass die Vorwürfe nicht stimmen. Die Kommentare unter dem Statement spiegeln das aktuelle Meinungsklima gut wider: Während die eine Seite Schneiders Worte lobt und die Band weiterhin preist wie verteidigt, ist die Gegenseite von der späten Stellungnahme und von dem Wortlaut dieser enttäuscht.

Bei allen Details, die im Fall Rammstein hervorstechen, muss man feststellen: Till Lindemann ist bei Weitem nicht der erste prominente Musiker, dessen Name in den letzten Jahren mit sexuellem Machtmissbrauch in Verbindung gebracht wurde. Der Ex-Popstar R. Kelly sitzt wegen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger sowie der Verbreitung von Kinderpornografie eine 30-jährige Haftstrafe ab. Metal-Ikone Marilyn Manson wurde von einer Reihe an Frauen aufgrund mutmaßlichen Missbrauchs verklagt, jedoch nie schuldig gesprochen. Auch Win Butler, Frontmann der Indie-Rock-Band Arcade Fire, wurde mehrfach sexuelles Fehlverhalten und emotionaler Missbrauch vorgeworfen. Die Liste ließe sich fortführen.
Machtgefälle zwischen Musikidol und Fan
Die Prominenz der Beschuldigten, die schiere Anzahl an Vorwürfen und die Aktualität der Causa Lindemann werfen einige grundsätzliche Fragen auf.
Erstens: Besteht im Verhältnis zwischen Musikidol und Fan ein Machtgefälle, welches Missbrauch besonders begünstigt? Es kann angenommen werden, dass das asymmetrische Verhältnis es besonders Frauen erschwert, ihren Lieblingsmusiker:innen, die sie oftmals auf ein unantastbares Podest stellen, jegliche Bitten abzuschlagen. Familienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) spricht in ihrem Interview mit Deutschlandfunk von einem Machtverhältnis zwischen den Stars und ihren Groupies, die sie anhimmeln. Ein solches Machtgefälle könne missbraucht werden, auch auf sexuelle Weise. Paus verlangt bei Konzerten Sicherheit und Schutzkonzepte für Frauen. Dass die Musikbranche nach wie vor von Männern dominiert sei, unterstütze vorangegangene Punkte weiter, so Paus.
Das Bild von „Sex, Drugs and Rock’n’Roll“ trägt weiter zur Romantisierung von Rockbands bei und stellt beinahe schon zur Voraussetzung, dass sexuelle Interaktionen nach Konzerten doch gang und gäbe seien. Das gilt es zu verneinen und festzuhalten: Die Musiker:innen sind in der Verantwortung, nicht nur eine sichere Atmosphäre für ihre Fans zu schaffen, sondern auch ein Umfeld, in dem es diesen möglich ist, zu sagen: „Bis hier hin und nicht weiter“. Sex darf grundsätzlich nicht erwartet oder etwa vorausgesetzt werden. Wenn zudem von Minderjährigen die Rede ist, müssen ohne Umschweife rechtliche Konsequenzen folgen.

Zweitens stellt sich die altbekannte Frage: Lässt sich die Kunst vom Künstler trennen? Damit sei nicht nur auf den Streitpunkt verwiesen, ob es moralisch vertretbar ist, Musik von womöglich unmoralisch handelnden Musikern zu konsumieren. Es sei auch eine vergangene Kontroverse um Till Lindemann und sein Werk betont. Im Jahr 2020 veröffentlichte Lindemann ein Gedicht namens „Wenn du schläfst“, in dem er von der Vergewaltigung eines mit Schlafmitteln betäubten Opfers fantasiert. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch, bei dem das Gedicht und der dazugehörige Lyrikband erschienen, rechtfertigte die Veröffentlichung mit Verweis auf die Kunstfreiheit. Als jedoch bekannt wurde, dass derselbe Gedichtband in einem Pornovideo auftaucht, in dem Lindemann „sexuelle Gewalt gegen Frauen zelebriert“, wie der Verlag schrieb, kündigte dieser die Zusammenarbeit auf. Denn die „so eisern verteidigte Trennung“ zwischen Künstler und lyrischem Ich werde von Lindemann selbst verhöhnt.
Zuletzt stellt sich eine Frage, die auch Naomi, Klara und den vielen anderen Demonstrierenden in München vor Augen geführt wird: Sind wir als Gesellschaft für destruktive Machtstrukturen, wie sie im Musikgeschäft häufiger zu Tage treten, genügend sensibilisiert? Geht man nach den Aussagen der Protestierenden, scheint die Akzeptanz möglichen Missbrauchs zumindest in Fangemeinschaften tief verankert. Beleidigungen und Rechtfertigungen finden sich sowohl im Netz als auch vor Ort wieder. „Das Traurigste waren für mich die Frauen, die an uns vorbeigingen und uns auslachten”, sind sich Klara und Naomi einig. Solidarität unter Frauen ist zwar gewünscht, aber nicht der Normalfall – darüber täuschen auch Spendenaktionen von Prominenten wie der Schauspielerin Nora Tschirner und der Autorin Jasmina Kuhnke nicht hinweg.
Ein Blick in die Zukunft
Einschüchtern lassen sich Demonstrierende wie Naomi oder Klara jedoch nicht. Der gemeinsame Protest ermutige sie sogar. Doch das geht bei Weitem nicht allen so. Auch deshalb ist Lisa Paus’ Forderung nach weiteren Schutzkonzepten in der Musikbranche richtig. Sicherheit ist das A und O.
Dass die „Row Zero” bei Rammstein-Konzerten inzwischen abgeschafft wurde, ist ein erster Schritt. Awareness-Teams sind ein Nächster. Doch reicht das aus? Die Antwort lautet: nein. Bands müssen Verantwortung übernehmen, Anschuldigungen überprüft werden und juristische Konsequenzen getragen werden. Erst wenn sich diese Erkenntnis in den Köpfen von Fans, Musiker:innen und Organisator:innen durchgesetzt hat, kann das System des Machtmissbrauchs überwunden werden – und Frauen sich auf allen Konzerten sicher fühlen.
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