Bei all den Missständen in der Welt mag es schwerfallen, in der Kunst einen Sinn zu erkennen. Dabei birgt Kunst das Potenzial, uns unseren Mitmenschen und uns selbst näherzubringen.
Als zwei britische Klimaaktivistinnen im Herbst 2022 Vincent van Goghs „Sonnenblumen“ mit Suppe bewarfen und damit einen medialen Skandal auslösten, rechtfertigte eine der beiden die Aktion mit folgenden Worten: „Was ist mehr wert: Kunst oder Leben? Ist Kunst mehr wert als Essen? Mehr als Gerechtigkeit?“
Nun, was kann man gegen so ein Totschlagargument einwenden? Vielleicht haben die beiden Aktivistinnen von Just Stop Oil in der Londoner National Gallery einen wunden Punkt getroffen. Im Falle eines Klimakollapses wäre jede noch so schön gemalte Sonnenblume wohl nichts wert, von den echten ganz zu schweigen. Wir können uns fragen: Was ist der Sinn von Kunst, wenn wir auf einem unbewohnbaren Planeten leben? Was nützt die schönste Musik Menschen, die Hunger leiden oder von Krieg und Gewalt betroffen sind? Es sind berechtigte Zweifel. Und doch gehen sie vielleicht am Kern dessen vorbei, was die Kraft von Kunst und Musik eigentlich ausmacht: nämlich, dass sie die objektiven Missstände auf der Welt transzendieren können.
Allen Krisen zum Trotz
Missstände hat es auch im Jahr 2024 zuhauf gegeben. An vielen Orten auf der Welt leiden Menschen unter Krieg, Gewalt und Vertreibung. Die liberalen Demokratien des Westens erleben einen erheblichen Glaubwürdigkeitsverlust und stehen von innen wie von außen unter Druck. Und während die Erdtemperatur weiter ansteigt und ein „Jahrhunderthochwasser“ das nächste jagt, sind die führenden Köpfe der Weltpolitik von einer klimapolitischen Wende noch immer weit entfernt.
Dass bei dieser besorgniserregenden Realität nicht jede:r einen Sinn in einem prächtigen Gemälde, einem poetischen Text oder einer warmen Melodie zu erkennen vermag, ist einerseits nachvollziehbar. Und andererseits kann man entgegenhalten: Wie kaum eine andere Instanz besitzt die Kunst das Potenzial, uns unseren Mitmenschen und der Welt näherzubringen. Das christliche Weihnachtsfest und das Ende des Jahres sind gute Anlässe, um sich das in Erinnerung zu rufen.
Kunst bringt uns der Welt näher
Der kanadische Philosoph Charles Taylor sprach in einem Interview mit der ZEIT vom „unendlichen Streben des Menschen nach etwas Kommendem, das unabschließbar ist“. Man könnte dieses Kommende als eine Utopie beschreiben. Wir sind ständig dabei, die Welt zu formen, und lassen uns dabei von der Hoffnung auf ein unerreichtes Ideal treiben. Dieses Kommende können vielleicht nicht einmal beschreiben, doch die Kunst hat zumindest die Kraft, sich ihm anzunähern.
Musik und andere Kunstformen sprechen zu uns, wie es sonst nichts und niemand kann: Sie nehmen Bezug auf unsere menschlichen Wahrnehmungen und Emotionen, abstrahieren sie, drücken sie in ungekannter Weise aus. Und wir selbst bringen sie in Verbindung mit unseren persönlichen Erfahrungen, als Individuen in der Welt.
„Die Poesie lässt zwischen dem Subjektiven und der physischen Welt offene Spielräume und der Deutung – und in diesem Dazwischen kann etwas verstehen, das uns verzaubert“, beschrieb Taylor im besagten Interview. Wir können auch Musik als Form der Poesie verstehen. Die Musik kann Horizonte eröffnen, die jede:r Einzelne von uns auf ganz eigene Weise deuten und erfahren kann. Sie ist eine Projektionsfläche für unsere Ängste und Sehnsüchte. Damit bringt sie uns der Welt näher – und zwar in all ihrer Potenzialität. Die Kunst ist nicht bloß ein Spiegel der Wirklichkeit. Sie entwirft neue Wirklichkeiten.
Kunst hat uns nicht zu nützen – und doch brauchen wir sie
Deshalb brauchen wir Kunst nicht nur, aber gerade auch in Zeiten gesellschaftlicher Instabilität und vermeintlicher Ausweglosigkeit (und dafür muss sie nicht im Museum ausgestellt sein). Denn künstlerische Ausdrucksformen sind in der Lage, Gestaltungsräume zu öffnen und menschliche Gemeinschaften zu beflügeln. Wer das Privileg hat, gelegentlich auf Live-Konzerte zu gehen, kann miterleben, wie die Menschen im Publikum oft eine gemeinschaftliche Dynamik entwickeln – die es ohne das geteilte Hörerlebnis nicht gegeben hätte. Oder man denke an die work songs, die versklavte Afro-Amerikaneri:innen beim Verrichten ihrer körperlichen Arbeit anstimmten und die sich zu einer wirkmächtigen Form des Protests und des Selbstausdrucks entwickelten.
Verstehen wir Kunst nicht als Ware, die sich versteigern lässt, oder als Dienstleistung, die uns zusteht, müssen wir feststellen: Der Wert von Kunst lässt sich schwer quantifizieren. Kunst ist in der Lage, unsere alltäglichen Kategorien zu sprengen und Regungen in uns zu offenbaren die uns sonst verborgen bleiben könnten. Dann ist Kunst der Faden, der uns mit der Welt verbindet.
Kunst hat uns nicht zu nützen. Und doch brauchen wir sie, heute und auch in Zukunft. Denn im Gedicht, in der theatralischen Darbietung, im gemeinsamen Singen steckt manchmal eine vereinende, gar spirituelle Kraft, die neue Impulse in uns weckt. Die die Grenzen von harter Realpolitik sprengt und uns die Vorstellungskraft verleihen kann, eine Welt jenseits von technischem Kalkül und kalten Interessen zu erträumen. Eine Welt, mit der wir in Einklang leben können, und so Frieden mit uns selbst schließen. Eine solche Welt gibt es nicht ohne die Kunst.
Bild: Felix Meinert
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