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Electric Rudeboyz: Drum‘n‘Bass Pioniere aus Polen

7. September 20238 Min. gelesen

Im polnischen Stettin pulsiert Ende der 1990er Jahre der Drum’n’Bass in den Clubs. Drei Freunde entwickeln einen ganz neuen Sound. Über ein bis heute einzigartiges Album, MTV-Shows, Raves und hinein in die Welt der rasenden Breakbeats.

„The club fucking exploded in these minutes!“ Es ist drei Uhr morgens, die Luft ist tropisch feucht, die Nacht steuert mit fiebrigen Break-Beats auf den Höhepunkt zu. An den Plattentellern steht Maciek und legt die nächste Platte auf. Ein kurzer Moment der Stille, durchatmen, dann geht’s los. Hämmernde Beats wie Faustschläge explodieren aus den Boxen. Volle Rave-Ekstase zu „Shadow Boxing“ von Doc Scott. Es ist ein Klassiker aus London, der Hauptstadt des Drum’n’Bass Ende der 1990er, der an diesem Samstagabend im kleinen Club 66 in Stettin erklingt.

Neue Freiheit der Musik

1998, fast zehn Jahre nach der friedlichen Befreiung aus den Fesseln des Sozialismus, schwappt die Welle westlicher Kultur nach Osteuropa. Mit der bunten Markenwelt von Coca Cola bis zu den Zigaretten von WEST kommt auch die Musik zu völlig neuer Blüte. In den Läden sind allemögliche Platten zu kaufen, die Musikszene boomt, überall wird bis in den Untergrund hinein gerappt, gesampelt und produziert. In dieser Zeit finden sich im idyllischen Stettin an der Ostsee Maciek und Marek zusammen.

Was ist Drum’n’Bass?
Der Drum’n’Bass hängt eng mit dem Genre des Jungels zusammen und ging aus diesem Anfang der 1990er Jahre in Großbritannien hervor. In schnellen Breakbeats zwischen 160 und 190 BPM vereinen sich Einflüsse von Dub, Reggae, Funk und Hip Hop. Dabei sind die Beats beim Drum’n’Bass nochmal minimalistischer als beim Jungle, weshalb die Musik bis heute vor allem im Underground stattfindet und wenig Anklang im Mainstream findet. So werden die Platten der DJs und DJanes häufig bei kleinen Independent Labels produziert.

Der Drum’n’Bass von London bis zur Ostsee

Der eine schreibt sich für die ersten Unikurse ein, der andere kommt mit vielen Eindrücken von wilden Jungle-Partys von einem Gapyear in London zurück. „There were crazy guys at the parties who didn’t dance, they ran to the beats.“ Dieses Feeling ins konservative Polen transportieren, das wär’s! Mit einigen Platten und Compilations setzten sie diese Vision in die Tat um. Jeden Samstag brachten die beiden Freunde ab nun die Vibes straight out of London in die Clubs von Stettin und bald schon darüber hinaus. Zusammen mit ihrem Freund Adam, der für diese Musik brannte, haben sie kurze Zeit später die Electric Rudeboyz aus der Taufe gehoben. Neben dem Drum’n’Bass war es die Musik der Beastie Boys, von The Prodigy oder auch Cypress Hill, die die Jungs faszinierte. „This Fusion of funk, hip-hop and rock was a huge influence for us.“, erklärt Maciek.

Flows und Breakbeats: Musikalische Pionierarbeit

Im Homestudio entstanden so schon bald darauf die ersten Songs. Breakbeats, die sich irgendwo zwischen Hardcore-Sounds und wabernder Fusion aus dem Synthesizer wiederfinden, peitschen mit einer unvergleichlichen Intensität voran. Dazwischen schlängeln sich Rap-Parts mit hohem Skill und Präzision hindurch, wo beim Hören die Frage aufkommt: Wie geht das? Wie konnte das aufgenommen werden? So schnell, so genau auf den Takt und das auf Polnisch. Einer Sprache, die von der ganzen Aussprache nochmal kantiger, härter als das Deutsche ist. In diesem einzigartigen Flow befassten die Boyz sich in den Texten mit der Situation und dem Leben als junge Menschen in den 20ern „without any Gangstershit“, wie Maciek bewusst betont. So war es 2001 fertig, das bis heute einzige Drum’n’Bass Album in Polen, „KolejnyKrok“ (Der nächste Step). Und die Reaktionen kamen direkt rein.

Überall Faszination: Fernsehen, Radio und Preisnominierungen

Die Kritiken waren durchweg positiv, die Leute fasziniert, aber vor allem waren da das Radio und MTV. Das Album platzte mitten in eine Zeit hinein, als der Musiksender sich mehr und mehr auf die unabhängige Musik konzentrierte. Es gab für jedes Genre eine eigene Sendung: Hip Hop, Alternative, Indie und Electronic Music. Die neuesten Sounds direkt aus dem Underground bekamen die große Bühne des Fernsehens.

Musikvideos wurden gesponsort und so drehten Marek, Maciek und Adam zwei DIY-Videos ganz im Stil ihrer Vorbilder aus England und den USA. Fisheye-Optik, Basecaps und Sonnenbrille vor harten Plattenbaufassaden und beim Abhängen, während die Lines in die Kamera gespittet werden. Auf einen Schlag waren die Electric Rudeboyz der Szene im ganzen Land bekannt und mitten im Geschehen. Bis dahin waren Krakau und Lodz die Epizentren des Drum’n’Bass in Polen, nun ist auch Stettin auf der Landkarte zwischen 160 und 190 BPM ein zentraler Ort. Von den Clubs ging es auf große Raves – gesponsort von den Major Labels – und auf Tour durch Polen und auch Deutschland. Und auch die Jury des „Fryderyki‘, des polnischen Musikpreises, erkannte das einflussreiche Potential des Albums und schickte eine Nominierung hinaus.

Auf den Höhenflug folgt die Ernüchterung

Jetzt kommt der unvermeidbare Satz in diesem Artikel mit der erbarmungslosen Schlussfolgerung. Denn bald darauf war die hohe Welle der Aufmerksamkeit wieder verebbt. Noch vor kurzem beim Majorlabel BAZA/EMI Polen unter Vertrag, hatte dieses plötzlich keinen Funken Interesse mehr an den Boyz und der Independent-Musik generell zu vermelden. Nach dem Höhenflug versank der Drum’n’Bass wieder im Underground und die Electric Rudeboyz lösten sich mit der schlichten und ernüchternden Erkenntnis, dass mit dieser Musik dauerhaft kein Geld zu machen sei, auf. Das normale Leben setzte wieder ein und die Rückkehr zu DJ-Sets vor 50 bis 100 Ravern in der Dunkelheit der Clubs stand bevor. Maciek wird Englischlehrer an einer Kunstschule in Stettin, Marek arbeitet für die BBC in London und komponiert weiterhin elektronische Musik. Doch das Album „Kolejny Krok“ bleibt, mit seiner Musik, mit seinen fiebrigen Beats und den Flows bis heute unangetastet.

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Balthasar Zehetmair - Redaktion

Sucht den Sinn des Lebens in Bob Dylan Songtexten und findet ihn bei den Wildecker Herzbuben. Meistens in Schallplattenläden und immer mit Kopfhörern auf den Ohren zu sehen.

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