Anfang der 1970er Jahre wird in Äthiopien der Jazz neu erfunden. Faszinierende Musik entstand, die bis heute weiterlebt und weltweit strahlt.
Es ist ein schlichter Gebäudekomplex entlang einer Ausfallstraße in Addis Abeba, aus dem heraus äthiopische Musikgeschichte bewahrt und ständig weitergeschrieben wird. Vor ein paar Jahren gründete ein unscheinbarer älterer Herr mit ergrauter Halbglatze und warmen Lächeln das African Jazz Village. Es ist Mulatu Astatke, der mit dieser Musikschule sein Wissen des Ethio-Jazz an die nächsten Generationen von Musiker*innen weitergeben will. Ein Konzept, das in Ostafrika vor 50 Jahren den Jazz revolutionierte.
Der Ethio-Jazz entwickelt sich
Nach sozialen Unruhen zu Beginn der 1960er Jahre will Kaiser Haile Selassie seine Macht mit einer neuen liberalen Haltung sichern. Mehr Freiheiten für das Volk, für die Kultur sich zu entfalten, dies führt schon bald zu einem aufblühenden Nachtleben in Addis Abeba. Auch die Musik bleibt davon nicht unberührt. Erste Grundlagen des Ethio-Jazz, einer Fusion der traditionellen äthiopischen Musik mit modernen Jazz-Rhythmen, werden, auch auf Initiative des Kaisers, gelegt.
Zu dieser Zeit ist der Gründer der Musikschule, Mulatu Astatke, noch in seinem Studium des Jazz in Boston vertieft. Stark von den Innovationen der Jazz-Szene in New York beeinflusst, wächst zeitgleich zu den Entwicklungen im fernen Äthiopien die Idee zur Kombination ganz gegensätzlicher Musikstile. Während die äthiopische Musik von pentatonischen (fünftönigen) Tonleitern durchzogen ist, wird der westliche Jazz von 12-Ton-Harmonien bestimmt. Viel Biegen und Brechen beim Komponieren.
Jazz völlig neu gedacht
Als Astatke 1969 zurückkehrt, hatte der Westen in der hoch gelegenen Hauptstadt Äthiopiens Einzug gehalten. Miniröcke und moderne Motorroller bestimmten das Straßenbild. Unabhängige Plattenlabels, wie das Amha-Label, bestimmen den neuen Sound von Addis Abeba. Ein florierendes Umfeld für Astatkes Jazz-Idee. Mit seinen Kompositionen ist er schnell einer der zentralen Akteure der explodierenden Musikszene in der Hauptstadt.
Astatkes Sound vereint vieles, Funk, Soul, modernen Jazz, die mystischen Klänge der traditionellen Musik. Klares Glockenspiel mit schweifendem Wah-Wah, perlendes E-Piano mit spielerischen Saxophonen, komprimiert auf Stücken oft nicht länger als fünf Minuten. Weniger zugänglich, aber sehr avantgardistisch, temperamentvoll, umspielt von einer Orgel, klingt der Saxophonist Gétatchew Mèkurya. Aber auch den Jazz-Gesang von Alèmayèhu Eshèté oder Girma Bèyènè durchfließt eine fiebrige Intensität.
Verschollen und wieder entdeckt
Fünf Jahre der Ekstase, die 1974 ein abruptes Ende mit dem marxistischen Regime finden. Das Land wird von westlicher Dekadenz gereinigt. Nun ist nur noch harmloser Instrumental-Jazz erlaubt, viele Künstler fliehen. Das Wunder von Addis Abeba, es wird vergessen, bis der eifrige Musikologe Francis Falceto Anfang der 90er Jahre alte Kassetten und Schallplatten sammelt und neu veröffentlicht. Der Aufschwung des Ethio-Jazz zur Jahrtausendwende ist perfekt, als Astatkes Musik den Soundtrack zum Film Broken Flowers ziert.
Die einstigen Visionäre stehen im Rampenlicht, gehen auf Touren, es kommen mehr Reissues für die Hipsterschaft in den westlichen Großstädten heraus. Und in Addis Abeba? Dort ist Ethio-Jazz nun fest im Lehrplan der Musikhochschulen verankert und wird ständig weiterentwickelt. Ein Stil, der von Äthiopien aus viele Musiker auf der ganzen Welt inspiriert und in seinem Sound die Welt vereint. Der ältere Herr, Mulatu Astatke, zeigt seinen Schülern wie es geht: “How to connect the World with Music”
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