Der Krautrock ist ein deutsches Kulturgut. Oft kommt die Frage auf: Gibt es das heute noch? Ein Annäherungsversuch mit Blick auf aktuelle Sounds in der krautigen Musiklandschaft in Deutschland.
Lecker Schmecker! Saftiger Krautrock!
Der Krautrock. Was ist das eigentlich? Eine wichtige Frage zum Anfang dieses Artikels, die nicht einfach zu beantworten ist. Ein Genre, ein Musikstil, ein deutsches Kulturgut, eine selbstironische Bezeichnung für Rockmusik aus Deutschland oder auch ein fast schon ausartender Fetisch für manche Musiknerds? Letztendlich war der Krautrock um die Jahre 1969 bis 1974 in Deutschland ein experimenteller und sehr improvisationslastiger Stil, Rockmusik zu machen. Die wichtigste Devise: Hauptsache nicht so starr, langweilig und kommerziell wie in den USA oder Großbritannien. So vereinte der Krautrock die verschiedenen Genres Elektronik, Folk, Jazz, Artrock (und viele mehr) in sich. Der Sound von Bands wie CAN, Kraftwerk, Ashra Temple oder Faust wird bis heute weltweit fast schon heilig wie unantastbar verehrt und gilt vielen Musiker*innen und Bands sowie auch Genres als maßgeblicher Einfluss.
Gibt es 2023 noch Krautrock?
Oft kommt gerade in Deutschland, dem Ursprungsland, unter Fachleuten diese Frage auf: Gibt es ihn noch, den Krautrock, oder ist es nur ein Phänomen, ein Stilbegriff aus vergangenen Zeiten, eine Kategorie im Plattenladen? Das Vinyl der legendären Bands wird hochpreisig gehandelt und regelmäßig neu aufgelegt. Und ja, auch über die Tonträger hinaus wird Krautrock aufgenommen, auf den Bühnen gespielt und gehört. Vielmehr sollte die Frage sein: Gibt es eine florierende Szene, wie damals Anfang der 1970er, oder ist es vor allem der Geist des unkonventionellen, experimentellen Krautrocks, der bis heute in der Musik fort lebt? Wo sind sie, die Krautrocker*innen im Jahr 2023?
Elektronik-Sounds fast wie aus den 1970ern
Seit mehreren Jahrzehnten wirkt mit Electric Orange in Aachen eine feste Größe des Neo-Krautrock. Auf ihrem letzten Album „Gap” aus diesem Jahr spielt die Band einen spannungsvollen wie ruhigen Sound, der nervöse Drums und wabernden Synthesizer in sich vereint. Ähnlich elektronisch, fast schon sphärisch und einen Hauch minimalistischer geht es beim Instrumental-Duo Sankt Otten aus Osnabrück zu, das sich in Optik und Auftreten einen ganz dezenten Kraftwerk „Mensch-Maschinen”-Anstrich gibt. Mit ihrem Ambient-Sound, der teilweise aus Original-Synthesizern aus dem goldenen Krautrock-Jahrzehnt erklingt, sind die Westfalen schon „Alte Hasen”, wie der Titel ihres aktuellen Albums verrät.
Zwei selbsternannte Schaufensterpuppen, das sind Fred und Luna aus Karlsruhe. Deren kompakte Elektropop-Arrangements auf ihrem neuen Album „Im Fünfminutentakt” klingen kalt, mechanisch. Aber gleichzeitig sprühen warme, zart romantische Funken in der Maschinerie, sobald die computerverzerrten Stimmen erklingen und sich schöne Melodiebögen auftun. Vor kurzem erschien auch beim Münchner Independent Label Compost Records von eben jenem Duo die fantastisch kuratierte Compilation „Future Sounds of Kraut Vol. 1”. Eine sanfte Einführung in den Krautrock, auf dem unterschiedliche Musiker*innen aus Deutschland und über seine Grenzen hinweg magische Klangwelten kreieren. Der Krautrock ist und war immer auch ein internationales Phänomen.
Organische und jazzige Grooves aus München, Berlin, Köln
Gleichzeitig ist Krautrock nicht automatisch immer Elektro, Synthesizer und steife Optik, die mit den Klischeebildern deutscher Ordnung spielt, sondern wurde und wird auch sehr organisch ausgelegt. So vereinen Whåzho aus München schon mal die Steel-Gitarre oder Blockflöte mit Dub-Grooves und Synthie-Loops. Bleibt man im Süden der Bundesrepublik, stößt man hier auf Embryo – ein Krautrock-Fossil, das bis heute aktiv ist – und Fazer weiter zu erwähnen. Hier geht es schon in die jazzige Improvisation hinein, die rein instrumental ohne größere Technik auskommt und sich vor allem von den Rhythmen her dem Krautrock annähert. Bei Embryo hört sich das oft ausschweifend und multi-instrumental an, bei Fazer sind es kompakte Jazz-Kompositionen mit einem Schwerpunkt auf dem Schlagzeug.
Die Band Weite führt die Tradition aus den 1970ern nicht nur in der Musik fort. Schön konzipierte und lange ausschweifende Sound-Landschaften sind hier das eine. Dann kommt das letzte Album der Band, „Assemblage”, aber zum anderen mit einem kunstvoll-verspielten Cover und mystischen Songtiteln wie „Neuland” oder „Murmuration” daher. Ganz im Stil von Ashra Temple oder Amon Düül lässt sich damit nicht näher an die sagenumwobenen Bands herantreten. Über 20 Minuten lange Kompositionen waren damals und sind heute nichts unübliches. Diese Tradition führen Flocks aus Berlin weiter. Auf ihrem selbstbetitelten Debütalbum wird es sehr hypnotisch. Die Band hat sich ihre Blas- und Saiteninstrumente teilweise selbst gebaut und bringt persische Perkussion mit subtiler Elektronik zusammen. Das klingt mitunter wie ein psychedelischer Trip, der in ausgewählten Hörsituationen seine Wirkung voll entfalten mag.
Jede Stadt hat ihren eigenen Krautrock-Sound
Viele Bands, viel Musik, viele Städte. Im Rheinland wird der Krautrock oft sehr elektronisch ausgelegt, in München mit Jazz und Dub verbunden, in Berlin nochmal ganz neu und anders interpretiert. Für den Krautrock gibt es bis heute viele Ausprägungen und vor allem keine einheitliche Formel oder Definition. Seine Tradition, sein Stil, sein Geist leben weiter. In den Aufnahmestudios, auf den Bühnen, auf den Plattentellern und letztendlich – um die Frage zu beantworten – in den Musikszenen der deutschen Städte.
Also Guten Appetit!
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