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Ganz still ist es nie

25. Juli 20249 Min. gelesen

Jede:r kennt es, wenn die Ohren plötzlich zu piepsen beginnen. Doch was, wenn das Geräusch anhält und sich ein chronischer Tinnitus entwickelt? Zwei unserer Redakteure berichten von einer gemeinsamen Konzerterfahrung und den Folgen, die sie bis heute begleiten.

Von Felix Meinert und Moritz Remuta

Wir hatten beide dieses Piepsen im Ohr, seit Samstagabend konnten wir es nicht loswerden. Und nun trafen wir uns am Montag nach der Schule zufällig im Wartezimmer einer HNO-Praxis wieder. Wir fanden das schon damals witzig. Dabei verstanden wir bereits vor sieben Jahren, dass diese Situation nicht der Leichtfertigkeit gebot.

Aber nochmal von vorn: An einem Wochenende im Jahr 2017 sind wir, Moritz und Felix, zusammen auf einem Konzert. Eine Post-Hardcore-Band tritt in einer kleinen Münchner Halle auf. Es wird geschrien und gemosht, wie es sich halt gehört. Doch womit wir nicht rechneten: Die Lautstärke ist für den kleinen Raum zu hoch, die Bässe völlig verzerrt. Und wir haben trotz so mancher Empfehlung unserer Eltern keinerlei Gehörschutz an – im Gegensatz zu einem Freund, mit dem wir auf dem Konzert sind. Nach der Show geht es ihm gut, unsere Ohren piepsen dagegen ununterbrochen.

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Es ist ein Gefühl, das jede:r kennt: Plötzlich pfeift oder rauscht es im Ohr, ohne erkennbare Ursache. Meistens ist das Geräusch nach zehn Sekunden wieder weg. Doch was, wenn es anhält? Laut der Deutschen Tinnitus-Liga, einer gemeinnützigen Selbsthilfeorganisation, haben knapp drei Millionen Menschen hierzulande einen chronischen Tinnitus. Das Krankheitsbild ist vielfältig, die Ursachen bleiben häufig unerkannt. Laut Expert:innen führen fehlerhafte Verarbeitungsprozesse im Gehirn dazu, dass wir dauerhaft ein Rauschen oder Piepsen wahrnehmen.


Viele Betroffene führen den chronischen Tinnitus auf Stress zurück, andere auf bestehende Schwerhörigkeit oder einen Hörsturz. Sehr häufig ist der Auslöser ein plötzlicher Schallüberdruck, der die Haarzellen im Innenohr schädigt. Der Hörnerv reagiert darauf mit Überaktivität, und das Hörzentrum des Gehirns nimmt plötzlich ein falsches Geräusch wahr. Man spricht hier von einem „Lärmtrauma“ – dieses entsteht oft in lauten Kneipen, bei Public Viewings, bei Musikveranstaltungen.

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Felix: Da meine Eltern auf einem Tagesausflug sind, muss ich einen Nachbarn und Familienfreund um Hilfe bitten. Es ist Sonntag, gewöhnliche Apotheken haben geschlossen. Er fährt mich zu einer Notfallapotheke. Dort bekomme ich gegen den akuten Tinnitus ein Medikament mit Trockenextrakt von Ginkgo-Biloba-Blättern. Es verbessert laut der Produktionsfirma „die Durchblutung und damit die Sauerstoffversorgung von Gehirn und Innenohr – an dem Ort, an dem die Ohrgeräusche entstehen.“ Werde die Durchblutung gesteigert, könnten sich am Hörvorgang beteiligte Zellen regenerieren. Tatsächlich spüre ich noch am gleichen Abend eine Besserung: Der Tinnitus ist nicht verschwunden, aber schwächer.

Moritz: Nach dem Konzert schicke ich ein Bild an meine Freund:innen, witzele über meinen „teeny tiny tinnitus”. Als er am nächsten Tag immer noch nicht weg ist, greife ich zu meinen Kopfhörern, versuche das Geräusch einfach zu übertönen. Ich finde heraus, dass ein akuter Tinnitus nach spätestens 48 Stunden erstbehandelt sein muss – ansonsten gibt es wenig Hoffnung auf Besserung. Leider bin ich in Österreich auf dem Land, fernab jeglicher kurzfristiger Hilfe. Also beschalle ich mein Ohr weiter und hoffe auf Glück beim HNO am Montag.

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Hält er drei Monate oder länger an, gilt ein Tinnitus als chronisch. Das Risiko einer solchen Erkrankung ist laut einer deutschen Studie aus dem Jahr 2022 bei Berufsmusiker:innen um 57% höher als im Rest der Bevölkerung. Mit Tinnitus eng verbunden sind Gehörschäden; sie können dem Tinnitus sowohl vorausgehen als auch eine Folge davon sein. Um Gehörschäden vorzubeugen, empfehlen viele Ärzt:innen und Wissenschaftler:innen sogenannte In-Ear-Hörgeräte: also Ohrstöpsel, die Betroffene zu lauten Anlässen tragen können und die zum Teil sogar ans individuelle Ohr angepasst sind.Hält er drei Monate oder länger an, gilt ein Tinnitus als chronisch.

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Felix: Kurze Zeit nach jenem Konzertbesuch lege auch ich mir einen solchen Gehörschutz zu. Er ist nicht speziell auf mein Ohr zugeschnitten, doch er schirmt zuverlässig vor lauten Geräuschkulissen ab. Mein Tinnitus ist gerade dabei, chronisch zu werden. Ich habe Angst, bei zukünftigen Konzertbesuchen mein Ohr weiter zu schädigen und mit der Zeit mein Gehör zu verlieren. Doch bei meinem jährlichen Hörtest bestätigt mir mein HNO: Ich höre bestens.

Moritz: Meine Diagnose ist drastisch: Hörsturz mit der Folge von Gehörverlust. Immerhin ist der Tinnitus möglicherweise behandelbar und tatsächlich nach drei Kortisonspritzen mehr oder weniger verschwunden. Ich greife danach immerhin zu Oropax. Allerdings unterschätze ich einen Faktor: den Lärm des Alltags. Eine Woche später stehe ich ohne Schutz beim Kinderturnen in der Turnhalle, und auf einmal kommt der hochfrequente Ton langsam, aber immer deutlicher wieder. Danach ist nichts mehr zu machen, der Tinnitus ist chronisch.

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Fragt man beim HNO, wie sich ein chronischer Tinnitus behandeln lässt, bekommt man als Betroffene:r selten zufriedenstellende Antworten. Wirksame Medikamente gegen chronischen Tinnitus gibt es nicht. Allein Psychopharmaka können auf das zentrale Nervensystem einwirken und so die psychischen und emotionalen Effekte lindern, die oft mit Tinnitus einhergehen. Allgemein sind sich Fachkräfte keineswegs einig darüber, was nachhaltig hilft – und warum das Ohrenpiepsen manchmal zur Freude der Patient:innen nach fünf oder zehn Jahren plötzlich verstummt. Nur eines scheint gewiss: Wer es schafft, trotz Tinnitus ruhig zu bleiben und das Geräusch möglichst „wegzuhören“, ist meist gut beraten.

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Felix: Ich bin in den vergangenen sieben Jahren meinen Tinnitus nicht losgeworden. Aber ich habe gelernt, weitgehend unbeschwert mit ihm zu leben. Auf Live-Konzerte gehe ich heute immer noch, trage dabei aber stets Ohrstöpsel. Zwar höre ich das Piepsen nach solchen Veranstaltungen oder auch lauten Barabenden meist spürbar lauter. Doch am nächsten Tag ist der akute Reiz in aller Regel wieder verschwunden. Meine Hörfunktion ist indes nicht beeinträchtigt. Und auch im Alltag geht das Geräusch meist vollständig unter.

Moritz: Das Geräusch verschwand in seiner hochfrequenten Form für mich einfach nach und nach, einige Monate nach dem Konzert, ohne Behandlung. Was bleibt, ist ein Hintergrundrauschen. Und ein eingeschränktes Gehör vor allem auf dem linken Ohr. Oft wundern sich Freund:innen, wie laut ich auf meinen Kopfhörern Musik höre, aber ansonsten würde ich schlichtweg kaum etwas mitbekommen. Am schlimmsten ist aber der Lärm. In Bars, bei Konzerten, Veranstaltungen, beim Pfeifen,meiner Tätigkeit als Schiedsrichter – nichts geht ohne Gehörschutz: Die lauten Geräusche, egal wie kurz, bereiten mir physische Schmerzen. Und ich merke, dass ich in Gesprächen immer genauer hinhören muss, oft Worte missverstehe (was ich meist noch erfolgreich als witziges Missverständnis weglächeln kann). Ein Tinnitus kann vergehen. Aber eine einmal erlittene Reduktion der Hörfähigkeit, so erklärte es mir damals mein HNO, wird bleiben.

Titelfoto: Felix Meinert

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Felix Meinert - Redaktion

Schon mit fünf Jahren war ich musikalisch begeistert: Damals trat ich mit meiner Fantasieband vor meiner Familie auf, sang (besser: schrie) auf meiner Fantasiesprache und trommelte mit Plastikstöcken unkontrolliert auf meinem Hüpfball herum. Da der ersehnte Durchbruch aber ausblieb, tobe ich mich heute lieber beim Hören und Schreiben aus. Oft feuilletonistisch, gerne nachdenklich bis nörglerisch, stets aber von Herzen schreibe ich über so ziemlich alles zwischen Rock, Pop, Folk, Hip-Hop, Jazz und elektronischer Musik.

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