Der ferne US-Bundesstaat Illinois erscheint auf Sufjan Stevens’ gleichnamigem Album von 2005 plötzlich ganz vertraut. Über ein vielschichtiges Folk-Album und die Frage, was Heimat ist. Eine persönliche Reflektion anlässlich des 20-jährigen Jubiläums.
In Sufjan Stevens‘ Musik habe ich eine Heimat gefunden. Das ist ehrlicherweise eine gewagte Aussage, denn der Singer-Songwriter singt über keine Orte, die meine eigene Biografie in irgendeiner Weise berühren. Der gebürtige Detroiter hat mit seiner Musik den Mittleren Westen der USA verewigt, seine eigene Heimat. Obwohl ich diese geografische Region noch nie besucht habe, weckt die Art und Weise, wie Sufjan Stevens darüber schreibt, ein Gefühl von Vertrautheit und Geborgenheit in mir.
Seinem Heimatstaat „Michigan“ widmete Sufjan Stevens 2003 ein gleichnamiges Album, dem benachbarten „Illinois“ 2005 ein weiteres. Darin lässt er Erinnerungen aus seiner Kindheit und Jugend aufleben, erzählt von der Kultur und den politischen Problemen. Seine Heimat, so kommt es mir beim Hören vor, muss ein geschichtsträchtiger, ungerechter, ganz und gar magischer Ort sein.
Die Geschichte von Illinois neuinterpretiert
Auf „Illinois“ lässt Sufjan Stevens historische Ereignisse mit existenziellen Fragen verschmelzen, er verbindet Autobiografie und Fiktion. Er schaut weit in die Vergangenheit zurück und interpretiert die Geschichte des Bundesstaates neu. So wendet er sich auf dem gleichnamigen Song an den Gründer der Stadt „Jacksonville“ und versetzt sich in die Rolle eines Blinden, der die dortige Schule für Seh- und Hörbehinderte besucht. „Come On! Feel the Illinoise!“ ist der Weltausstellung von 1893 in Chicago gewidmet und beschwört das dazugehörige Fortschritts- und Wohlstandsversprechen. Der melodische Reichtum dieses Albums kommt in diesem Song bestens zum Ausdruck: Cello und Violine flattern spielerisch auf und ab, während Sufjan Stevens und ein Chor einandern abwechseln, im Hintergrund erklingen Glocken. Im zweiten Teil des Songs dann baut sich eine Rock-Gitarre zum Solo auf, bevor die Violine das farbenfrohe Stück versöhnlich ausklingen lässt.
Die Geschichten dieses Albums wären nicht so beeindruckend und vor allem nicht so berührend, wenn Sufjan Stevens sie nicht auf so empathische Weise neu interpretieren würde. Stevens schafft es, zeitlich und räumlich ferne Ereignisse in eine universale Sprache zu übersetzen, die voller Weisheit und Menschlichkeit steckt. Den Song über den Serienmörder „John Wayne Gacy Jr.“ beendet er mit der Frage an sich selbst, ob in ihm selbst nicht auch ein Mensch wohnt, der zu solchem Übel fähig wäre.
Trauer, Trost, Selbstfindung: Ich kann Sufjan Stevens‘ Themen persönlich nachempfinden
Dabei triefen seine lyrischen Bilder nur so vor Spiritualität. Sein Glaube, sein ambivalentes Verhältnis zur Religion, seine Erfahrungen mit Leben und Tod spielen bis heute eine zentrale Rolle in seinem Werk. Kein Song verdichtet diese Themen mit solcher erzählerischen Brillanz wie „Casimir Pulaski Day“. Stevens richtet sich in der Rolle eines Jugendlichen an eine krebskranke Freundin. Die beiden kommen sich näher, unsicher in ihren Gefühlen und Begierden, eingeengt durch die Dogmen eines streng christlichen Familienhauses. Als die Freundin an ihrer Krankheit stirbt, fühlt sich das lyrische Ich von Gott betrogen und alleingelassen. Doch aus Stevens‘ zarter Stimme, aus seinem Banjo-Spiel und der besonnenen Trompete scheint noch immer die Unschuld des Kinderzimmers zu sprechen.
Warum nun habe ich das Gefühl, dass in dieser Musik ein Stück von mir drinsteckt? Das beschriebene Kinderzimmer ist nicht mein Kinderzimmer. Sufjan Stevens‘ Schmerz ist nicht mein Schmerz. Und dennoch: Dass ich mich so stark mit seinen Reflektionen über Verlust und Trauer identifiziere, mit seiner queeren Perspektive auf Selbstfindung, liegt an meinen persönlichen Erfahrungen. Besonders schön ist, dass ich in Sufjan Stevens‘ Musik immer ein Element des Friedenschließens, der inneren Reinigung entdecke.
Die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt
Weil ich seine Geschichten auf meine eigene Weise interpretiere, denke ich beim Hören von „Illinois“ nicht allein an den US-amerikanischen Bundesstaat – sondern vor allem an meine Zeit im norwegischen Bergen. Ich war 20 Jahre alt, die Corona-Pandemie in vollem Gange, und ich war im Auslandsjahr meines Studiums erstmals völlig auf mich allein gestellt. Während meine Freunde und Familie zu Hause im Lockdown saßen, schienen sich mir im weitaus freizügigeren Norwegen ganz neue Horizonte aufzutun. Im milden Spätsommer, umgeben von Bergen und Fjords, schloss ich neue Freundschaften, verliebte mich und hatte das Gefühl, mich zum ersten Mal vollständig selbst entfalten zu können. Der Soundtrack zu meinem neuen Freiheitsgefühl war Sufjan Stevens.
Was für mich Bergen ist, ist für Sufjan Stevens vielleicht „Chicago“: ein Symbol der Freiheit und eine ebenso bekanntermaßen windige Stadt, nach der der berühmteste Song dieses Albums benannt ist. Darauf erzählt Stevens von seiner persönlichen Sinnsuche als Jugendlicher in den großen US-Metropolen. Davon, wie er sich seine Reisen durch den Verkauf seiner Klamotten finanzierte und mit einem Freund im Van übernachtete. Die schiere musikalische Größe dieses Songs vermittelt das Gefühl, mit Stevens den Lichtern der Großstadt entgegenzufahren: Die Violine baut sich erwartungsvoll auf, die Trompete prescht triumphierend voran, ein Chor setzt ein und bringt den hymnischen Refrain zum Schweben. Der Song klingt, als eröffne sich Sufjan Stevens eine ganz neue Welt – ein Gefühl, das ich zu jener Zeit uneingeschränkt nachempfand.
Als ich damals in Bergen bei meinen Spaziergängen durch die träumerische Landschaft „Illinois“ im Ohr hatte und schon sehnsüchtig das abendliche Treffen mit Freunden erwartete, kam es mir oft vor, als hätte ich eine neue Heimat gefunden. Bis heute bedeutet mir Bergen unfassbar viel. Doch ist es wirklich die Stadt, die zu meiner Heimat geworden ist? Wenn ich heute Sufjan Stevens‘ Musik höre und damit auch meine damaligen Gefühle wachrufe, glaube ich eher etwas anderes: Heimat bedeutet, dass ich mir selbst ein Stück nähergekommen bin.
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