„Heroin“ von The Velvet Underground zeigt mir das pure Leben, bei jedem Hören aufs Neue. Wie fern und doch ganz nah mir dieser Song ist und warum dieser süchtig macht. Eine persönliche Offenbarung.
Bevor ich beginne, möchte ich eine Klarstellung machen.
Ich bin nicht süchtig nach Heroin, dem Stoff.
Es ist Montagmorgen. Leichte Sonnenstrahlen brennen direkt in die müden Augen. Der Kopf brummt. Ich setze mich an die Bettkante, starre ins Leere und all die schlechten Gedanken, die Überforderung mit dem Leben kreischen im Kopf. Beim Aufstehen wird mir leicht schwindlig, die Flamme am Herd erleuchtet blau, der beißende Geruch des Gas schießt in die Nase. Fast zitternd ergreife ich die Kopfhörer und suche nach dem einen Song. Play, los geht der Trip.
Das leise, melodische Gitarrenspiel von Lou Reed setzt ein. Ich schließe die Augen, atme tief durch, der Kaffee fängt an zu blubbern. „I don’t know just where I’m going“. Schenke ein, setze die Tasse an die Lippen. „‘Cause it makes me feel like I’m a man / When I put a spike into my vein”. Der Kaffee ist stark, das Koffein schießt in die Blutbahnen. Es wird schneller und schneller, alles dreht sich. „And I feel just like Jesus’ son“. Doch am Ende: „And I guess that I just don’t know“. Doch ich weiß es einfach nicht. Ernüchterung, die Wirkung lässt nach, das warme Gefühl von der kalten Realität augenblicklich erwürgt.
Diese ersten zwei Minute in „Heroin“ von The Velvet Underground beschreibt einen Drücker, eine Ladung des braunen Stoffs. Von der Nadel direkt in die Venen. Pure Erlösung und gleich darauf der Absturz. So authentisch, dass sogar einst Lou Reed in einem Interview staunte: „ ,Heroin‘ is very close to the feeling you get from smack”. Vertrottelt-konservative amerikanische Kritiker, die vor allem Reeds radikalen Bruch mit starren heteronormativen Weltbildern nicht schlucken konnten, bezeichneten den Song damals 1967 als Verherrlichung des Drogenkonsums. Doch dabei ist dieser Song viel mehr als nur ein Lied über die Sucht, die das eigene Leben und die Identität auffrisst. Wenn man sich von eingängigen starren Deutungsschemen verabschiedet.
Das nächste High startet, wieder baut sich im Song langsam ein instrumentales Crescendo auf, das mit Reeds Gesang schnell hochpeitscht und schließlich radikal abfällt. Für mich geht es hinaus in den Tag. Die Straßen sind vereist, die Luft stechend kalt. Eindrücke und Nachrichten prasseln auf mich ein. Will ich diese bekommen? Ich kann mich schwer entziehen. Der Montag verläuft gut, ich bekomme Sachen erledigt, die Produktivität gibt mir ein gutes Gefühl. In ein paar Tagen steht ein wichtiger Termin an, ich bin aufgeregt, je später der Tag wird, desto mehr fresse ich mich in die dunklen Welten meiner Fantasie hinein. Jeder von uns durchlebt dies, immer wieder. Ich spüre gerade, wie ihr euch beim Lesen dieser Sätze selbst wiedererkennt. Lest die letzten drei Sätze nochmal durch.
Es ist so. Und genau das macht diesen Song aus. Rein analytisch betrachtet ist dieser die Vertonung der Drogensucht, doch offen interpretiert pulsiert in diesem das pure Leben voller Highs and Downs. Freude und Ernüchterung, Hoffnung und Angst liegen jeden Augenblick, jede Stunde, jeden Tag so nah beieinander.
Schließlich artet der Song langsam, aber sicher in ein rasendes Crescendo aus. Die kreischende Bratsche von John Cale wirkt betörend, die rhythmische Gitarre von Sterling Morrison und das hypnotische Schlagzeug von Maureen Tucker, die zeitweilig bei der Aufnahme einen Aussetzer hatte, schließen diesen Trip über sieben Minuten ab. Und im kompletten Rausch, im Wirbel der Gedanken faucht Lou Reed fast schon mit seiner metallenen Rock-Stimme. Über die Politiker, die ihn verrückt machen, dass jeder den anderen immer nieder macht, über all die verblendeten (hippen) „Jim-Jim’s“ in dieser Stadt (München).
Und am Ende wieder die ernüchternde Erkenntnis „And I guess that I just don’t know“. Können wir dieses Treiben der Welt da draußen überhaupt verstehen? Oder werden wir schon wahnsinnig, wenn wir nur den Versuch wagen? All den Krieg, die Politik, die alltäglichen Dinge, die anderen Menschen und ihr Verhalten? Verstehen wir uns selber? Weißt du oder ich, wer wir sind oder sind wir auf der ständigen Suche nach uns Selbst? Diese Fragen schwimmen bei dieser Songzeile mit. Sie schießen mir ständig beim Hören dieses Songs auf. Dieser Song drückt so viel Verzweiflung und Verwirrung über das Leben, die Welt aus und doch nimmt er mir diese ab. Gibt mir ein wohlig warmes Gefühl. Ist wie eine Dosis Heroin, die von den Ohren in die Venen schießt. Und bringt mich immer wieder zur Erkenntnis: Dieses ständige Auf und Ab, zwischen Glück und Verzweiflung, schönen Momenten und purem Kotzen, genau das ist das Leben. Das macht das Leben so vielfältig, reich und einzigartig.
Und so möchte ich diesen Text damit schließen:
Ich bin süchtig nach Heroin, dem Song.
Eva Müller
Dezember 14, 2023 / at 8:20 pm
Großartiger Text, lieber Balthasar,
Spannende, treffende Gedanken mitreißend geschrieben.
Dickes Kompliment
Eva