Alynda Segarra reist auf einem wunderbar geradlinigen Country-Album in die eigene Vergangenheit und in mögliche Zukünfte.
Es ist ein schmerzhafter Moment, zu dem Alynda Segarra auf „Colossus of Roads“ wie durch Raum und Zeit zurückreist: ein Tag im Juli 2022, als ein schwer bewaffneter Mann im US-amerikanischen Colorado Springs in die LGBTQ-Bar Club X eindringt und fünf Menschen tötet. Segarra versetzt sich in die Lage einer anwesenden Person, die womöglich dabei war, jemand anderen kennenzulernen, als der Amokläufer den sicheren Hafen der queeren Gemeinschaft zerstörte. „You will live forever as this bombshell in my mind“, singt das lyrische Ich seinem imaginären Gegenüber zu. Ihre Begegnung wird für immer die völlige Verwundbarkeit in diesem furchtbaren Moment markieren, wie eine Narbe am eigenen Körper.
Segarra verwandelt auf diesem Lied ein kollektives Trauma in eine persönliche Geschichte. Eine Geschichte, die die eigene sein könnte: Denn Segarra ist selbst nicht-binär und eine der prominentesten queeren Stimmen im zeitgenössischen Country. Unter dem Eigennamen Hurray for the Riff Raff veröffentlicht Segarra nun „The Past Is Still Alive“: das neunte Album, das Segarra als Kopf der Band mit sonst wechselnder Besetzung anführt. Auf diesen elf Songs schafft es Segarra, ein emotional vielschichtiges Selbstporträt in Licht und Schatten der US-amerikanischen Gesellschaft zu tauchen.
Charmante Schlichtheit
„I love what I believe is at the heart of the American people”, sagte Segarra einmal in einem Interview mit dem Magazin NYLON. Im traditionellen Blues und Folk von Hurray for the Riff Raff, in der Liebe zur ländlichen Natur und zu den mythischen Figuren der indigenen Bevölkerung erhält diese Wertschätzung Gestalt. Segarra nimmt Bezug auf die eigene Vergangenheit als Teenager, der von zu Hause ausgerissen ist und durch die Staaten trampt – Erfahrungen, von denen auf diesem Album eine stille Magie ausgeht. Über die wertvollen Bekanntschaften aus dieser Zeit scheint Segarra zu lächeln und zu trauern.
Aber auch die weitverbreitete Gewalt in den USA und die drohende ökologische Katastrophe sind Inhalt der Texte. Dabei braucht Segarra jedoch selten explizit politisch zu werden, sondern schafft es, das Erzählte für sich sprechen zu lassen: eine Fähigkeit, die meist nur die talentiertesten Singer-Songwriter beherrschen.
Der Charme dieses Albums liegt oft in seiner schnörkellosen Geradlinigkeit. Dennoch treten immer wieder Details und Texturen hervor, die Segarras erdigem Americana seine Seele verleihen: Eine melancholische Pedal-Steel-Gitarre begleitet auf „Buffalo“ Segarras sanften Gesang. Auf „Snake Plant (The Past Is Still Alive)“ baut sich ein gedämpftes Saxofon kontinuierlich auf, das Schlagzeug tastet sich stetig voran und entfaltet so eine wirkmächtige Spannung. „The World Is a Dangerous Place“ ist ein zurückhaltendes Duett mit Indie-Folk-Veteran Conor Oberst, auf dem eine Fidel und eine klassische Country-Gitarre die erhoffte Katharsis bringen.
Echos der Vergangenheit
Die thematischen Stränge des Albums führt Segarra auf dem abschließenden Stück „Ogallala“ zusammen. Erneut öffnet sich ein Fenster in die Vergangenheit: Segarra versteckt sich mit 17 Jahren vor der Polizei in Nebraska; und stellt sich eine Zukunft vor, die ein Wiedersehen mit einem vertrauten Menschen in einer Buchhandlung in San Francisco verspricht. Es sind Fetzen einer Erinnerung. Doch während sich Schlagzeug, Pedal-Steel-Gitarre und Saxofon zu einem Wirbelsturm zusammenbauen und Segarras Stimme sich seinem eisigen Wind hingibt, flammt diese Erinnerung lebendig vor einem auf. Sie baut sich zu einer apokalyptischen Vision auf und löst sich gleichsam darin auf: „I used to think I was born into the wrong generation / But now I know I made it right on time / To watch the world burn”.
Die Zeitebenen scheinen sich auf diesem Album häufig zu überlappen. Nicht umsonst trägt es den Titel „The Past Is Still Alive“: Segarras alte Träume und Enttäuschungen hallen bis heute nach. Mit viel Witz und Weisheit haucht ihnen Segarra neues Leben ein. Und so sucht auch das lyrische Ich in „Colossus of Roads“ eine Verbindung zu seinem Gegenüber, die in seiner Vorstellung bis in ein vorheriges Leben zurückreicht: „We’ll pretend it’s 1985 / Before we were a twinkle in our great-grandfather’s eyes“. Als sei schon immer alles auf jenen Moment der Begegnung hinausgelaufen.
Bild: Tommy Kha
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