Während weltweit aufgerüstet wird, lässt Pop-Sängerin Lorde auf ihrem neuen Album jegliche Deckung fallen. Pop und Weltpolitik driften dieser Tage mehr und mehr auseinander – das hat auch mit unterschiedlichen Freiheitsverständnissen zu tun.
Totale Transparenz! Diese Botschaft scheint die neuseeländische Pop-Sängerin Lorde vermitteln zu wollen. Das Cover ihres neuen Albums „Virgin“ zeigt eine Röntgenaufnahme ihres Beckens, zu sehen sind dabei ein Reißverschluss und eine Verhütungsspirale. Lorde scheint auf diesem Album jede Fassade ablegen zu wollen. Sie befreit sich von den gesellschaftlichen Erwartungen, die auf Frauen allgemein und auf weiblichen Popstars im Besonderen lasten. Indem sie die Beziehung zu ihrem eigenen Körper neu definiert, feiert sie eine Art spirituelle Wiedergeburt. Damit verkörpert Lorde einen neuen Typ von Popstar: Sein Gestus ist der der Verletzlichkeit, welche er selbstbewusst nach außen trägt.
Pop und Weltpolitik driften zunehmend auseinander
Auch wenn man auf die weltpolitischen Ereignisse der jüngsten Zeit blickt, werden allerlei Verwundbarkeiten deutlich: Militärische Eskalationen, die Angst vor einem Atomkrieg, all das erschüttert die Welt. Doch im Kontrast zu Lorde lassen führende Politikerköpfe keineswegs die Deckung fallen – im Gegenteil. Die Rüstungsausgaben schießen in die Höhe. Keine zwei Wochen vor Veröffentlichung von „Virgin“ lässt Donald Trump an seinem Geburtstag eine Militärparade vor dem Weißen Haus auffahren.

Bild: Universal Music

Bild: Daniel Torok / Weißes Haus
Welch krasser Gegensatz tut sich da gerade auf: Hier die Pop-Avantgarde, die sich jeder Verkleidung zu entledigen scheint, dort die weltpolitische Elite, die sich in einschüchternden Flecktarn hüllt. Die einen stellen ihre Verwundbarkeit zur Schau, die anderen protzen mit ihrer Kriegsfähigkeit. Die einen machen sich frei von alten Rollenbildern, die anderen vom Völkerrecht.
Und noch etwas fällt auf: Von Lorde über Chappell Roan bis Charli XCX, die treibenden Kräfte des zeitgenössischen Pop und seiner neuen Verwundbarkeit sind weitgehend weiblich. Währenddessen geben in der globalen Politik weiterhin Männer einen Ton an, der entschieden männlicher wird. Feministische Außenpolitik war gestern! Denn die neuen alten Protagonisten auf der Weltbühne – ob sie nun Trump, Putin, Netanjahu oder Chamenei heißen – verstehen unter Führungsstärke vor allem männlich konnotierte Tugenden wie Entschlossenheit oder Schlagkraft, die sie heute wieder breitbeinig ausleben können.
Kulturkampf in neuem Gewand
Dennoch sind die Geschlechterrollen in diesem neuen Spannungsverhältnis eben nicht rein binär. „Some days I’m a woman, some days I’m a man”, singt Lorde auf ihrem neuen Album und verhandelt so ganz offen ihre geschlechtliche Identitätssuche. Unterdessen lässt Donald Trump in den USA die Diversity-Programme in Behörden und Unternehmen zurückfahren und schränkt die Rechte von LGBTQ+-Personen ein. Was für eine Dissonanz.
Es scheint, als verkörpere die Polarisierung zwischen Pop und Weltpolitik die politisch-kulturellen Grabenkämpfe der vergangenen Jahre mit neuer Schärfe. Die progressive Strömung, die Mitte der 2010er als „Wokeness“ gefeiert und später als solche verunglimpft wurde, gerät heute mehr und mehr in die Defensive. Die teils berechtigten Zweifel an „woken“ Positionen, die Überforderung mit dem kulturellen Wandel und die neu-rechten Gegenbewegungen verdichten sich gegenwärtig zu einem konservativen Zeitgeist – der mitunter faschistoide Züge annimmt, vor allem außerhalb Europas. Doch während Staatsoberhäupter weltweit zu alten Idealen der Stärke zurückkehren, wird im Pop der Traum vom emanzipierten und diskriminierungsfreien Leben weitergeträumt.
Eine Chance für den Pop?
Der autoritäre Aufschwung und der militaristische Ton in der Weltpolitik bieten zweifelsohne Grund zur Sorge. Doch paradoxerweise könnte sich für den Pop gerade eine neue Chance auftun: Dass Kunst und Politik nach langer Zeit wieder eindeutig unterscheidbaren Logiken folgen, fordert Pop-Künstler:innen heraus, Projekte zu wagen, die tatsächlich so unbequem und subversiv wirken, wie sie auch gemeint sein wollen. In der Abgrenzung von der politischen Eskalation steckt die Verheißung einer neuen Emanzipation.
Den persönlichen Kampf um ebendiese Befreiung scheint Lorde auf ihrem neuen Album zu vertonen. Besonders deutlich wird das auf dem Song „Clearblue“, der nach einem Schwangerschaftstest benannt ist. Lorde macht sich darin von allen Instrumenten frei, nichts trennt ihren mehrschichtigen Gesang von der Welt da draußen. Sie vergegenwärtigt sich den Höhepunkt einer sexuellen Erfahrung: „Your metal detector hits my precious treasure / I’m nobody’s daughter / Yeah, baby, I’m free, I’m free.“ Ihre körperliche Ekstase verwandelt sich hier in ein Gefühl existenzieller Erlösung. Plötzlich ist Lorde ganz bei sich. Ungebunden. Sie ist niemandem mehr Rechenschaft schuldig, nur sich selbst.
Titelbild: Thistle Brown




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