Der Country erlebt ein neues Hoch in den USA. Warum spielt dieses traditionelle Genre bis heute eine zentrale Rolle im dortigen Mainstream?
Heute, in der Woche von Johnny Cashs 20. Todestag, ist in den US-amerikanischen Charts etwas Ungewöhnliches passiert: Auf der Liste der erfolgreichsten Alben stehen ganz oben zwei Country-Platten; „Zach Bryan“ vom gleichnamigen Sänger aus Oklahoma auf der Nummer 1, „One Thing at a Time“ von Morgan Wallen auf der 2.
Dieser Konstellation würde man gerne etwas Symbolkraft zuschreiben. In Wahrheit hat das Erstarken des Country wenig bis nichts mit der Genre-Legende Cash zu tun. Denn der Szene, die weiterhin in Nashville ihren Kern hat, ist es aus eigener Kraft gelungen, ihre Rolle im US-Mainstream aufs Neue zu stärken. Schon in der Endwertung des letzten Jahres bestand ein gutes Viertel der US-Charts aus Musik, die als „Country“ definiert wurde. Das liegt mitunter daran, dass Billboard in seiner Wertung Radiopräsenz stärker als Streaming berücksichtigt – und Country im Vergleich zu anderen Genres häufiger über Radiosender als über Streaming-Plattformen gehört wird. Doch eben das wirft die Frage auf: Welchen Reiz hat ein Genre, dem sein konservativer Ruf vorauseilt, in der flüchtigen Musiklandschaft heutzutage?
Trend und Rückbezug
Tatsächlich gehen die derzeitigen Hauptfiguren der Szene auf sehr unterschiedliche Weise mit der Country-Tradition um. Der 27-jährige Zach Bryan klingt auf seinem kürzlich erschienenen vierten Album bewusst rustikal. Ihn begleiten Mundharmonika, eine Pedal-Steel-Gitarre und ein rauer Produktionsstil. Dagegen schleichen sich auf Morgan Wallens aktuellen Singles „Last Night“ und „Thinkin ’Bout Me“ Trap-Perkussion, Klatsch- und Schnips-Effekte unter die akustische Gitarre und Wallens Südstaaten-twang.
Morgan Wallen konnte mit seinem neuen Album bereits mehrere Hits landen. Foto: Universal Music
Blickt man auf die Entwicklungen in den letzten zwanzig Jahren, ist es keine Neuigkeit, dass der Country von den Trends im Rock, Pop und Hip-Hop abkupfert. Zach Bryan wird vor allem deshalb als aufstrebendes Songwriting-Talent gefeiert, weil er die Wurzeln des Genres sichtbar macht – und sich damit von vielen seiner Mitstreitenden abgrenzt. Auf dem Lied „I Remember Everything“, welches letzte Woche Rang 1 der US-Charts belegte, singt er im Duett mit Kacey Musgraves über verlorene Liebe und den Trost, dem ihm der Whiskey spendet. Musgraves gehört neben Künstlern wie Chris Stapleton und Eric Church zu jenen Stimmen, die dem zeitgenössischen Country-Mainstream etwas Zeitloses zu verleihen suchen.
Musik für die Arbeiterklasse?
Auch Luke Combs aus North Carolina wagt in seiner Musik den Rückbezug zur Vergangenheit. Besonderen Erfolg hat er dieses Jahr mit seinem Cover von Tracy Chapmans Folk-Klassiker „Fast Car“ gefeiert. Wer das Original von 1988 kennt, weiß, dass Chapman darin die Erfahrung einer Arbeitertochter in einem Kreislauf von Armut und Repression schildert. Das schnelle Auto eines Partners dient ihr als Motiv der Sehnsucht, sich von diesen Ketten zu lösen. Luke Combs ist mit dem Vorwurf konfrontiert worden, als weißer Mann die Linse zu verzerren, aus der Chapman als schwarze Frau das Original schrieb. Als Grund für sein Cover nennt Combs, „Fast Car“ sei schlicht ein lebenslanges Lieblingslied von ihm. Doch die Botschaft des Stücks fände bei Live-Auftritten stets große Resonanz.
Der Country trägt bis heute einen Stempel als Musik für die Arbeiterklasse – einen Status, den viele Fans und Künstler:innen selbstsicher verteidigen. Dass dieses Klassenbewusstsein mitunter in Elitenfeindlichkeit kippen kann, zeigt der aktuelle Hit „Rich Men North of Richmond“. Darin klagt Oliver Anthony, zuvor ein völliger Außenseiter der Szene, die Institutionen in Washington an: „Livin‘ in the new world / With an old soul / These rich men north of Richmond / Lord knows they all just wanna have total control”.
Wie viel Anklang das Gefühl von Entfremdung und Benachteiligung in der US-amerikanischen Hörerschaft findet, beweist der Erfolg dieses Songs. Oliver Anthony ist scheinbar nicht die einzige alte Seele, die von den Konflikten der Gegenwart überfordert ist. Auch dass Morgan Wallen zwei Jahre nach der Verwendung eines rassistischen Schimpfwortes und einer öffentlichen Entschuldigung heute den Höhepunkt seiner Karriere erlebt, ist ein Blick in das zerrissene und widersprüchliche Gesicht der US-Kultur. Der Country bewegt sich heute dort, wo es auch große Teile der US-amerikanischen Gesellschaft tun: irgendwo zwischen Rost und Oldtimer-Geruch, zwischen Tradition und Neo-Konservatismus, zwischen Ignoranz und Wiedergutmachung. Vielleicht ist der Country heute das laute Echo dieser Konflikte.
Titelfoto: Kristin Braga Wright; Der aufstrebende Singer-Songwriter Zach Bryan gilt als großes neues Talent im Country.
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