In der westlichen Indie-Sphäre erfreuen sich Fishmans heute großer Beliebtheit – mehr noch als zu ihrer Schaffensphase im Japan der 90er. Was macht die Magie dieser genresprengenden Band aus?
Manche Abschiede entpuppen sich erst im Nachhinein als solche. Oft wissen wir nicht, dass wir gerade zum letzten Mal einen geliebten Menschen sehen oder in einer bestimmten Runde zusammenkommen. So ist das auch im Jahr 1999, als Fishmans zusammen ein Live-Album aufnehmen, das paradoxerweise den Namen „Otokotachi no Wakare“ trägt – auf Deutsch: „Abschied eines Mannes“. Die japanische Band will ihren langjährigen Bassisten Yuzuru Kashiwabara verabschieden. Wie sich herausstellen wird, ist dies aber auch der letzte Auftritt von Frontmann Shinji Sato. Der Sänger und Multi-Instrumentalist stirbt nur drei Monate später mit gerade einmal 33 Jahren.
Vielleicht ist es auch der Mythos um Shinji Sato und seinen tragischen Schwanengesang, der heute Fishmans‘ Erbe prägt. Er wäre nicht der erste Künstler, dessen Werk im Schatten seines Todes als noch gewichtiger bewertet wird als zu Lebzeiten. Man denke nur an den Kult um den „Klub 27“ oder um Joy-Division-Sänger Ian Curtis. Fakt ist jedenfalls: Heute gelten Fishmans auch über japanische Landesgrenzen hinaus als musikalisches Juwel der 90er und erfreuen sich vor allem in den Online-Communities der Indie-Sphäre größter Beliebtheit.
Die Anfänge in Shibuya
Besonders gepriesen wird dabei „Otokotachi no Wakare“. Wegen seiner rohen Energie und der schier unermüdlichen Performances gilt es manchen Fans gar als eines der besten Live-Alben aller Zeiten. Auch das Album „LONG SEASON“ von 1996 prägt Fishmans‘ Vermächtnis: In einer einzigen 35-minütigen Komposition vereint die Band psychedelische Keyboard-Klänge, Gitarrensoli, Trip-Hop-Grooves, verträumte Gesangseinlagen und ein zentrales Akkordeonmotiv zu einer bunten, sich ständig wandelnden Klanglandschaft.
Doch Fishmans‘ Geschichte beginnt schon früher. Um sie zu verstehen, muss man sich gedanklich an einen der am stärksten überlaufenen Orte der Welt begeben: dem Shibuya Crossing. Die Straßenkreuzung in Tokios Stadtviertel Shibuya ist der meistfrequentierte Fußgängerübergang auf dem Planeten. Etwa 250.000 Menschen passieren ihn täglich. Ihm verdankt auch eine musikalische Bewegung ihren Namen, die in den 90er-Jahren zur Ausdrucksform der japanischen Jugend wurde: Shibuya-Kei entsteht damals als Produkt der hippen Plattenläden, Clubs und Einkaufszentren rund um den Shibuya Crossing. Auch Fishmans treten in den jugendlichen Clubs des Viertels auf und experimentieren mit westlichen Sounds, die zu dieser Zeit den japanischen Markt fluten. Lounge-Musik, Reggae und Sunshine-Pop prägen vor allem das Frühwerk der Band.
Jugendliche Selbstentwürfe
Im Shibuya-Kei sucht die junge Generation vor der Jahrtausendwende nach Inspiration in den Klängen ferner Länder. Fishmans spielen mit tanzbarem Ska, jamaikanischer Dub-Produktion und nostalgischen Synth-Experimenten. Sie bedienen sich der exotisch wirkenden Ästhetiken vergangener Jahrzehnte und versuchen, diese neu zu interpretieren. Dahinter steckt womöglich das Verlangen, sich fernab vom Hier und Jetzt neu zu entwerfen – und eben das verbindet Fishmans mit den heutigen Mitgliedern digitaler Musik-Communities. Nur dass es heute eine westliche Hörerschaft ist, die ihre Faszination für die unbekannte Musik aus dem Japan der Vergangenheit entdeckt, und nicht umgekehrt.
Es dauert jedoch nicht lange, bis Fishmans die Grenzen des Shibuya-Kei transzendieren. Zwischen ihrem Debütalbum und Shinji Satos Tod liegen gerade einmal acht Jahre. In dieser vergleichsweise kurzen Zeit reift die Band in musikalischer Hinsicht, lässt die Retro-Huldigungen ihrer Anfänge hinter sich und entwickelt in ihren ausufernden Kompositionen eine beeindruckende atmosphärische Tiefe.
Melancholische Träumereien
Davon zeugt vor allem Fishmans‘ letztes Studio-Album, „Uchū Nippon Setagaya“. Auf nahtlose Weise verwebt die Band hier Dream Pop, Dub, psychedelische Elemente und elektronische Spielarten. Oft benötigt sie nur wenige Elemente, um eine hypnotisierende Aura zu beschwören. Ein vibrierender Gitarrenakkord, leichte Perkussion, eine akustische Gitarre, Vogelgezwitscher und Satos Reverb-getränkter Gesang reichen dem Stück „IN THE FLIGHT“ aus, um einen in seinen Bann zu ziehen. Wie auch der Titel des betörend schönen Songs „DAYDREAM“ verrät, herrscht hier melancholische Träumerei – und man gibt sich ihr gerne hin.
In dieser Weltflucht könnte der heutige Reiz von Fishmans‘ Musik liegen. Die weiten Klanglandschaften der Band klingen ein bisschen, als existierten sie jenseits jeder Zeit und jedes Ortes. Als könnten sie einen aus den Zwängen des Alltags befreien und dennoch dank ihrer organischen Wärme eine Zuflucht bieten.
Seit 2005 sind Fishmans wieder offiziell zusammen. Sie treten gelegentlich in Japan auf, doch ein neues Album haben sie ohne Shinji Sato nie aufgenommen. In einem Interview mit einem japanischen Magazin sagte der Schlagzeuger der Band, Kinichi Motegi, vor drei Jahren: Fishmans Musik hat die Zeit überdauert. Vielleicht könne er eines Tages stolz darauf zurückblicken. Manches weiß man eben erst rückblickend.
Bild: Ayako Mogi / Polydor
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