Mit einer Mischung aus psychedelischem Darkwave und Einflüssen aus Nordafrika erzählt Léonie Pernet die Geschichte ihrer eigenen Verwundbarkeit. Es ist eine zutiefst politische Geschichte.
Mit entschlossener, brüchig gewordener Stimme skandiert jemand: „Fraternité! Solidarité!“ Stampfen, Klatschen, Rufen: Es sind nicht die Klänge eines konventionellen Pop-Songs, sondern die eines Protests, die den vielleicht mitreißendsten Moment auf Léonie Pernets neuem Album ausmachen. Mehr und mehr Stimmen setzen ein. Es entwickelt sich ein Call-and-Response. Dann ergreift jemand das Wort und spricht über das Leben ohne gültige Papiere, die Flucht nach Europa, die rassistischen Gesetze. Das Zwischenspiel ebbt ab, ein bedrohliches Synthesizer-Riff und ein tanzbarer Darkwave-Beat leiten den nächsten Song ein. Er heißt „Paris-Brazzaville“ und ist Ausdruck eines politischen Aufbegehrens, das Léonie Pernet von der französischen bis zur kongolesischen Hauptstadt beschwört.
Léonie Pernets Musik drückt Verschmelzung und Fluidität aus
Wenige Momente verkörpern das politische Ethos von Pernets Kunst so treffend wie diese aufeinanderfolgenden Stücke. Sie sind der Schlüssel, um „Poèmes Pulvérisés“ zu verstehen: das neue Album der 36-Jährigen, das sie selbst komponiert und produziert hat. Die Französin erzählt in ihrer Musik eine Geschichte, die man guten Gewissens postkolonialistisch nennen könnte. Eine Geschichte über Unterdrückung, Verschmelzung und dem Leben zwischen klaren Zugehörigkeiten.
Diese künstlerische Schlagrichtung lässt sich wohl auch biografisch begründen. In einem Interview aus dem Jahr 2021 erzählt Pernet von ihrer Homosexualität und auch davon, erst als erwachsene Frau ihren Vater kennengelernt zu haben: einen Tuareg, Angehörigen eines über lange Zeit nomadisch lebenden Volks aus Nordafrika. Erst als sie ihn kennenlernte, habe sie ihre afrikanischen Wurzeln wirklich akzeptiert, ihren Rassismus gegen sich selbst überwunden.
Auf diese Wurzeln nimmt sie mit dem Song „Tuareg“ explizit Bezug. Sie verbindet darin den traditionellen Wüstenblues der Tuareg mit westlichen elektronischen Elementen. Damit schließt sie an den eklektischen Ansatz des Vorgängeralbums „Le Cirque de Consolation“ an, auf dem sie psychedelischen Synthpop mit urtümlichen afrikanischen Grooves anreicherte. Diese innovative Formel übersetzt sie auch auf „Poèmes Pulvérisés“ in eine atmosphärische musikalische Sprache.
„Die Welt ein bisschen reparieren“
Besonders inspiriert hat Léonie Pernet das Werk des französischen Dichters und Widerstandkämpfers Rene Char. Der Albumtitel, zu Deutsch „Zermahlene Gedichte“, ist eine Anspielung an eine seiner Gedichtsammlungen. Auf dem Intro lässt Pernet ein Gedicht daraus vortragen, im Hintergrund bauen sich Streicher und Synthesizer filmreif auf. Den Charakter des Widerstands und die existenziellen Fragen aus Chars Werk verarbeitet Pernet auf diesem Album mitunter auf melancholische Weise. Auf dem sanften Klavierstück „Réparer le monde“ verarbeitet sie ihren Weltschmerz zu einer einfachen universellen Botschaft: Wir alle haben als Menschen die Verantwortung, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen.
Es ist ein unmissverständliches Plädoyer. Eines, das das Potenzial hat, die möglichen Sprachbarrieren auf diesem Album zu überwinden. Dabei scheint die Schwermut Léonie Pernets Stimme niemals ganz zu verlassen. Ihr Gesang klingt zerbrechlich, angespannt und – selbst während als sich ein elektronischer Filter darüberlegt – zutiefst menschlich. „Poèmes Pulvérisés“ ist das Manifest einer Künstlerin, die die Geschichte ihrer Verwundbarkeit erzählt und aus dieser ihre politische Willenskraft zieht.
Bild: Mathieu Zazzo
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