Mit ihrem Debütalbum „Definitely Maybe“ lösten Oasis vor 30 Jahren ein Erdbeben in der Rockwelt aus. Diese Musik macht nicht nur Lärm, sondern ist ein ganzes Lebensgefühl. Was macht dieses Album so „fucking biblical“ (wie Liam Gallagher sagen würde)? Ein Artikel, der bei einem ohrenbetäubend selbstbewussten Spaziergang durch München entstand.
(Triggerwarnung: In diesem Artikel müssen das Wort „fuck“ und andere Flüche öfters gebraucht werden. Bei einem Artikel über Oasis und die Brüder Gallagher ist das leider unverzichtbar. Eine Triggerwarnung, gab’s sowas überhaupt in den 90ern. Egal, los geht’s!)
„Definitely Maybe“. Auf jeden Fall vielleicht. Nichts ist gewiss. Hmm, was ein Albumtitel, denke ich. Schon peitschen mich die aggressiven Gitarren von „Rock’n’Roll-Star“ aus der Haustür und Liam Gallagher schreit mich an: „I live my life for the stars that shine, people say it’s just a waste of time“. Hör auf zu denken, fang an zu leben, verdammt nochmal. Greife nach den Sternen ohne Angst zu fallen, mach’s einfach. Die rostorange Abendsonne strahlt in den Straßen Münchens. Der Prosecco perlt im Aperol und in mir brodelt das Selbstbewusstsein auf. Fragende Blicke schauen mich an, die Weingläser klirren. Lass die Leute reden und denken, es kann dir scheißegal sein. „Toooonight I’m a rock’n’roll star!!!“
Was soll es dich schon interessieren, was andere über dich denken?! So kompromisslos, provokant und unverschämt selbstbewusst stürmten fünf Jungs aus Manchester im Sommer 1994 die Rockwelt – ja, fast schon erschütterten die Rockwelt. Ihr Debütalbum löste nicht nur bei den Plattenverkäufen von hier auf jetzt ein Erdbeben aus, auch die Kritiker:innen waren wie überrumpelt von „Definitely Maybe“. Kaum über Nacht berühmt legten die rücksichtslosen Rabauken sich mit allem und jedem an. Am liebsten mit den zahmen Londoner Schnöseln um Blur.
Unverschämtes Selbstbewusstsein
Ganz großmäulig mit dunkler Sonnenbrille, fettigen Haaren und Zigarette im Mundwinkel heißt es dann auch in Interviews: „We are the best band on the world with the best songs.“ Doch das konnten sie behaupten, mit diesem Album waren sie es einfach. Die Songs sind einfach „fucking biblical“, um es mal in Gallagher-Rhetorik auszudrücken. Die Gitarren machen mehr Lärm als auf die Rillen passt (das Album wurde auch extra laut produziert), die Texte sind straight und stechen mitten hinein ins Herz. Es ist Musik, die nicht einfach nur da ist, sondern sie vermittelt ein ganzes Lebensgefühl. Ohne ein Wort zu viel trifft es Noel Gallagher genau auf den Punkt – das, was die besten Songwriter seit jeher so ausmacht. Gerade wird noch angezählt und sofort geht’s los. Es braucht nicht mal eine ganze Strophe, schon nach drei Zeilen bin ich in „Live Forever“ mitten im Geschehen.
Maybe I don’t really wanna know
How your garden grows
`Cause I just wanna fly
Einfache Zeilen, die abholen. Frisch, frech und ja, was interessiert es mich wie dein „fucking“ Garten wächst, verdammt? Ich will hoch hinaus, einfach fliegen und keine Löcher in die Erde starren. Meine Schritte werden größer, schwingen aus den Hüften und ich schaue nach vorne. Nicht in mein scheiß Handy. In den 90ern gab’s höchstens Keulen als Mobiltelefone (mit ausfahrbarer Antenne). Durch den Instagram-Feed scrollen oder die Fitnesswerte nachschauen, womit? Genau wie damals will ich jetzt leben, leben, leben, genau in diesem Moment. Mit dir, forever! Auf diesen kompromisslos lyrischen Traum vom ewigen Leben, diese Ode an die Zuversicht geht es noch höher, „Up in the Sky“. Obwohl der Text hier ein bisschen Non-Sense ist, sorgt die leicht bluesige Rock-Stimme von Liam mit ihren langgezogenen Betonungen für hypnotische Momente. Da wird ein Dylan-eskes „How does it feel“ schon mal schnell zu „How does it feeeeeeel“. Die Beatles, David Bowie oder The Stone Roses als Einflüsse, doch Oasis spielen unbekümmert drauf los. Auf „Columbia“ fließen die Instrumente perfekt ineinander, wie eine geölte Rock-Maschine, und dann…
Pure Magie auf Supersonic
„Oh fuck yeah! Endlich!“ Ich fahre die Lautstärke auf meinen Kopfhörern höher und die Snares knallen rein. Eine E-Gitarre schleicht sich heran und Liam Gallagher schreit ins Mikrofon „I need to be myself/ I can’t be no one else“. Das einzige, was ich brauche nun sind Gin und Tonic, um mich fucking „Supersonic“ zu fühlen. Die berauschendste Droge ist es, einfach nur pur ich selber zu sein. Hör auf dich zu verstecken, geh raus, es wird verdammt geil, du wirst es sehen. Komm mit und finde es heraus, ruft dir Liam zu. Schritt um Schritt, Takt um Takt schwinge ich weiter. „Oh yeah, dieser Song ist einfach fucking geil!“ In einer halben Stunde geschrieben und schnell aufgenommen entstand hier einer der besten Rock-Songs ever (?) und ein Stück von einer brachial klaren Leichtigkeit, an die Oasis oder die Gallagher-Brüder nie wieder herankommen sollten. Pure Magie!
Von „Bring it on Down“ und „Digsy’s Dinner“ weiter gepeitscht ziehe ich am veganen Restaurant vorbei. Es müffelt nach Kichererbsen, Spinat und Holunderschorle mit Zitronenmelisse, doch was ich brauche, sind jetzt „Cigarettes & Alcohol“!! Dringend, für das ultimative Feeling, es muss sein, ich breche meine Saft-Kur und…
Is it worth the aggravation
To find yourself a job when there’s nothing
worth working for
It’s a crazy situation
But all I need are cigarettes and alcohol
…kaufe mir am Reichenbachkiosk einen perlenden Gerstensaft. Warum heute darüber nachdenken, was morgen ist? Es wird sich schon was ergeben, aber genau jetzt lebst du die beste Zeit.
In München ist nichts mit „Definitely Maybe“
Ich zerbreche mir nicht den Kopf, doch das Gitarrenriff von „Slide Away“ nimmt nochmal mein ganzes Trommelfell auseinander und ich beobachte die Isar unter mir im Mondschein. (Sorry, aber dieses Album kann man nur laut hören, anders geht’s nicht!) Ich nehme die Kopfhörer ab und München prasselt voll auf mich ein. Ein Lastenfahrrad schrammt über den engen Fahrradweg und ich höre Gespräche über den neuesten Foodtrend und Tipps für die Steuererklärung. Uff, fucking hell! Ich will mir fast schon wieder die Noise-Canceling-Kopfhörer aufsetzen, da erlausche ich am Ufer Gitarrengeklimper. Ach ja, wieder einmal ein lallendes „Wonderwall“. Das ist doch das einzige Oasis-Lied, das diese verdammt spießige Stadt kennt. Ich laufe weiter und denke mir: Ach du schönes München, du bist viel zu verblendet, zu langweilig und zu sauber für den Rock’n’Roll von Oasis. Auf jeden Fall ist hier wenig „Definitely Maybe“!
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