1972 ist die Abkehr von der etablierten Sexualmoral in vollem Gange. Da schreibt Lou Reed mit seinen musikalischen Tabubrüchen Pop-Geschichte.
Holly trampt durch die Vereinigten Staaten, landet in New York, rasiert sich die Beine – „And then he was a she“. In diesen Worten besingt Lou Reed die Geschichte von Holly Woodlawn, einer transsexuellen Schauspielerin, die in Filmen von Andy Warhol zur Ikone wurde. „Walk on the Wild Side“ heißt der Song, auf dem Reed ihr und anderen bahnbrechenden Persönlichkeiten 1972 einen Platz einräumt.
Neue Freiheit in der Kunst und Musik
Das zugehörige Album „Transformer“ erscheint zu einer Zeit, in der die Abkehr vom etablierten Verständnis von Sexualität in vollem Gange ist. Die 68er-Bewegung bringt mit ihrer Forderung nach „freier Liebe“ die bürgerliche Sexualmoral ins Wanken, und immer mehr europäische Länder entkriminalisieren homosexuelle Handlungen. Gleichzeitig schlägt die Kunst eigene emanzipative Wege ein.
Der Künstler und Fotograf Andy Warhol, selbst enger Kollaborateur von Lou Reed, macht Transfrauen wie besagte Holly Woodlawn und Candy Darling zu Symbolen einer neuen Freizügigkeit. Filme von Luis Buñuel, Rainer Werner Fassbinder und von Vertretern der französischen Nouvelle Vague brechen mit traditionellen Rollenbildern zugunsten des oft widersprüchlichen Strebens nach Selbstbestimmung.
Abseits der Norm
Auch Lou Reed kreiert in seiner Musik Charaktere, die sich vom Druck der Konventionen loszureißen versuchen und mitunter an den sozialen und emotionalen Konflikten zerbrechen. Schon in den späten 1960ern beschreibt er mit The Velvet Underground vieles, was dem Blick der bürgerlichen Mitte entgleitet und von ihr als „abnorm“ tabuisiert wird: Sadomasochismus, Transsexualität, zerstörerische Beziehungen.
Reeds Themen bleiben auch während seiner Solokarriere kontrovers. Seine Musik ist ebenso befreiend wie innerlich zerrissen. Einerseits scheint er auf „Transformer“ mit dem unbeschwerten Sound von Momenten wie „Vicious“ und „Hangin‘ Round“ die erlangte Freizügigkeit zu feiern. Andererseits liegt der scheinbaren Glückseligkeit von Erzählungen wie Reeds Liebeserklärung an Heroin, „Perfect Day“, eine unbestreitbare Melancholie zugrunde.
Und doch vermittelt dieses Album eine Form der Akzeptanz, des Friedens mit der eigenen umkämpften Identität. Songs wie „Make Up“ beschwören einen Geist der Gemeinschaft: „Now we’re coming out / Out of our closets / Out on the streets.” Die Weltmetropole New York entwickelt sich zu dieser Zeit zu einem kollektiven Zufluchtsort, um sexuelle Wünsche und Vorlieben auszuleben und in Form der Kunst zu artikulieren.
Reeds Musik ist noch heute relevant
Ein gefeierter und einflussreicher Meilenstein der Pop-Geschichte ist „Transformer“ auch dank seiner eingängigen Refrains, üppigen Glam-Rock-Kompositionen und Reeds zugänglichem Gesang. So ist der große Hit des Albums, „Walk On the Wild Side“, geprägt von einem sanften Kontrabass-Motiv, samtigen Saxofon und dem souligen Refrain dreier Hintergrundsängerinnen.
Damit vertont Lou Reed die gesellschaftlichen Spannungen und identitätspolitischen Umbrüche der Zeit auf erstaunlich romantische Weise. Er verleiht den umstrittensten Lebensformen etwas Warmes und Selbstverständliches. Fünfzig Jahre nach „Transformer“ hat die sexuelle Transformation mit dem Auflösen binärer Grenzen, aber auch dem erneuten Kampf um körperliche Selbstbestimmung, eine neue Phase erreicht. Und Lou Reeds Musik hat kein bisschen an Wucht verloren.
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