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“Musik ist das Schweizer Taschenmesser der Theatermittel”

26. Oktober 202315 Min. gelesen

Ein Gespräch mit Dr. David Roesner, Professor für Theaterwissenschaft und Musiktheater an der LMU München, über die traditionsreiche und vielfältige Verbindung von Musik und Theater.

Das Interview führte Christopher Bertusch.

Frequenz: Was war das letzte Theaterstück, das Sie musikalisch begeistert hat?

Prof. Dr. Roesner: Ein aktuelles Beispiel wäre Jette Steckels Inszenierung von „Die Vaterlosen“ in den Münchner Kammerspielen. Die gesamte Inszenierung wird auf der Bühne von Matthias Jakisic, einem Musiker mit einer elektrischen Geige, begleitet (Kompositionen von Anna Bauer). Oft sieht man Musiker*innen am Keyboard, mit einem Schlagzeug, einer E-Gitarre oder einfach am I-Pad. Eine elektrische Geige, die mit Effekten und Loops versehen wurde, war dagegen sehr ungewöhnlich und sinnlich. Das hat den 3 ½ Stunden langen Abend atmosphärisch und dramaturgisch beeindruckend mitgetragen.

In der Aufführung von „Die Vaterlosen“ an den Münchner Kammerspielen kommt die Musik auf eine beeindruckende Art und Weise in der Inszenierung zum Einsatz. Foto: Armin Smailovic/Münchner Kammerspiele

Spielt die Musik schon immer eine Rolle für das Theater? 

Musik im europäischen Raum ist seit der Antike ein integrativer Bestandteil des Theaters. Der Rhythmus der Sprache, Instrumente, Gesänge und Tänze spielen eine wichtige Rolle und sind mehr als nur Ausschmückung. Siegried Melchinger (dt. Theaterkritiker, Anm. d. Red.) schreibt, dass wir uns das antike Theater eigentlich wie eine Oper vorstellen müssen. Im Grunde müssen wir die Frage umdrehen. Also nicht, wann spielt Musik eine Rolle, sondern wann hat sie keine Rolle gespielt?

Gibt es musikalische Unterschiede zwischen der heutigen Theaterlandschaft und der Vergangenheit?

Es gibt zumindest zwei Faktoren, welche die heutige Theaterlandschaft von früher unterscheiden. Der große deutsche Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann bezeichnet das Theater seit den 1990ern als ein postdramatisches Theater, das sich von einem klassischen Theater-Verständnis wegbewegt. Die traditionelle Idee des Theaters lautet: Wir haben einen Dramentext und dann kommt die Inszenierung. Genau das wird in vielen kontemporären Inszenierungen aufgelöst oder in Frage gestellt. Hier kommen eine ganze große Bandbreite von Theaterformen ins Spiel, die bildhaft, installativ, tänzerisch oder körperlich sind. Viele Inszenierungen arbeiten mit Textcollagen oder ganz ohne Script. An die Stelle klassischer, textlicher Ordnungssysteme wie Plot und Figuren treten andere Strukturen und hier ist Musik ein wichtiger Impuls. Heute gibt es eine ganze Reihe von Regisseur*innen, die ihre Theaterarbeiten auf musikalischen Prinzipien oder mit Hilfe von Musik strukturieren. Ein Name, der von vielen Theatermusiker*innen als Inspiration genannt wird, ist Christoph Marthaler. Er ist seit über 30 Jahren revolutionär für die Verbindung von Musik und Theater, unter anderem singen seine Schauspieler*innen die schönsten Chorsätze oder hervorragende Pianisten spielen Schubert. Die Musik ist immer in die Handlung integriert oder übernimmt diese sogar teilweise, sodass man nur noch zuhört und gar nicht mehr viel Szenisches passiert.

Dr. David Roesner, Professor für Theaterwissenschaft und Musiktheater an der LMU München. Foto: Privat.

Und was ist der zweite Grund?

Der zweite Faktor ist die Digitalisierung. Wir haben in den letzten 30 Jahren einen enormen technischen Fortschritt erlebt, was das Aufnehmen, Produzieren, Vervielfältigen, Mixen, Mastern und Einsetzen von Musik betrifft. Ein Theatermusiker sagte einmal zu mir im Interview: „Naja früher hatte man eine ambitionierte Idee und bastelte 2 Wochen daran, bestellte ein Streichquartett und einen Studiotermin. Heute macht man das in der Mittagspause.“ Wenn Musik schneller auf eine szenische Entwicklung oder den Probenprozess reagieren und sich vielfältiger einbringen kann, verändert das auch ihre Rolle. Früher hatte man eine fertige CD oder eine Band, die an den vorher geprobten Stellen spielte. Die Musik blieb meist gleich. Heute kann ich als Toningenieur*in mit Programmen wie Ableton Live auf einzelne Tonspuren der Musik zugreifen, sie einzeln anpassen und bei Bedarf und im Moment individuell verändern. Ich kann sie beispielsweise verlangsamen, wenn ich merke, dass das Tempo der Schauspieler*innen an einem Abend ruhiger ist.

Was unterscheidet die Theatermusik von anderen Formen wie der Filmmusik?

Ästhetisch und funktional gibt es viele Überschneidungen. Im Film gibt es Musik, die eine bestimmte Atmosphäre erzeugen soll oder syntaktische Musik, die auf den Rhythmus oder die Struktur einer Szene – beispielsweise Szenenwechsel oder Schnitte – einwirkt. Diese Funktionen finden sich auch in klassischen Theaterstücken. Der große Unterschied liegt in der Produktionsweise. Beim Film gibt es zunächst ein fertiges Drehbuch, dann wird gefilmt und erst danach wird die Musik unterlegt. Damit hat sie eher eine illustrative und reagierende Rolle. Es gibt aber auch Gegenbeispiele wie Edgar Wrights „Baby Driver“, welcher von Anfang an auf eine bestimmte Lied-Auswahl zugeschnitten wurde. Im Theater existiert oft bereits bei den Proben ein Wechselspiel zwischen Musik und Szene. Zwei Schauspieler*innen arbeiten beispielsweise an einem Dialog und erhalten musikalischen Input. Während einer Liebesszene kann z.B. kontrastierend Rammstein gespielt werden. Diese Musik bleibt am Ende nicht immer in der Inszenierung, aber bildet eine Art musikalischen Subtext, durch den die Schauspieler*innen in der Aufführung geleitet werden.

Wie wurde traditionell im Theater mit Musik gearbeitet? 

Früher hatten viele Theater einen Hausmusiker oder eine Hausmusikerin. Diese konnten in der Regel gut Klavier spielen und wenn nun Brecht auf dem Spielplan stand, probten sie die Lieder mit den Schauspieler*innen. Sie hatten also eine gewisse Servicefunktion. Der*die Regisseur*in kam und sagte: „Für diese Szene brauchen wir einen Marsch, komponiere etwas dazu.“ 

Heutzutage hat sich das verändert? 

In den letzten 20-30 Jahren haben sich mehr künstlerische Paarungen entwickelt. Das hängt immer von der Größe und Finanzkraft des jeweiligen Theaters ab, aber gerade an großen Theatern gibt es nicht selten Regie-Teams, die aus Regisseur*innen, Musiker*innen und oft auch Bühnenbildner*innen bestehen. Es ist etwas ganz Anderes, wenn die Musiker*innen die Inszenierung von Anfang an konzeptionell betreuen, Ideen liefern und an Proben teilnehmen. Nicht selten füllen sie die Proben mit Sounds und Musik, die als Inspiration dienen und bestimmte Atmosphären erschaffen. Früher kamen die Hausmusiker*innen erst ein paar Wochen vor der ersten Aufführung zur Arbeit und fügten die Musik zum mittlerweile vollendeten Stück hinzu. Teams wie der Regisseur Michael Thalheimer und der Musiker Bert Wrede kennen sich seit dutzenden Inszenierungen, sind ein eingespieltes Team und wissen daher, was der andere kreativ möchte. Thalheimer arbeitet gerne mit kurzen Szenen und Blacks, daher weiß Wrede, dass er die Zuschauer*innen mit seiner Musik am Ball halten und durch die Szenen transportieren muss.

Löst sich dadurch die Trennung zwischen Schauspieler*innen und Musiker*innen?

Musizieren ist immer eine Art der Rollendarstellung. Wir sehen Taylor Swift auf der Bühne nicht als Privatperson, sondern als eine gewisse Kunstfigur an. Manche Musiker*innen wie David Bowie betonen diese Artifizialität mehr, andere geben sich authentisch. Innerhalb der Musik gibt es ebenso Figuren. Zum Beispiel wenn Bruce Springsteen mit über 70 einen Song singt, den er mit 19 Jahren schrieb. Wir haben den 74-jährigen Springsteen vor uns und gleichzeitig dieses 19 Jahre alte Alter Ego, was auch noch einmal eine fiktive Figur darstellt. Wenn ich Musiker*innen auf eine Theaterbühne setze, ergeben sich weitere Fragen. Setze ich sie konventionell in den Orchestergraben, wo sie als Musiker*innen wahrgenommen werden? Jessica Glause (dt. Theaterregisseurin, Anm. d. Red.) stellt ihre Musiker*innen beispielsweise oft kostümiert auf die Bühne. Sebastian Nübling benutzt in seinen Inszenierungen immer wieder Musiker als zusätzliche Figuren, die nicht im eigentlichen Stück vorkommen, sich aber immer wieder einmischen und mitreinsingen. Vor einigen Jahren gab es am Residenztheater eine Shakespeare-Inszenierung („Was ihr wollt“ von Amélie Niermeyer), in der ein Musiker (Ian Fisher) eine Nebenrolle spielte, zwischendurch aber auch gesanglich den Verlauf der Handlung kommentierte. Damit stand er auf der Schwelle zwischen Schauspieler, Figur und Musiker.

Bei der Inszenierung von „Im Menschen muss alles herrlich sein“ von Regisseur Jan Bosse ist auf der Bühne ein ganzes Band-Setup aufgebaut. Die Darsteller*innen geben einzelne Live-Performances und die Live-Musikerin Carolina Bigge (an der Gitarre) begleitet das Geschehen. Foto: Armin Smailovic/Münchner Kammerspiele

Wie differenziert sich das Zuhören im Theater vom Zuhören in der Symphonie oder dem Hören einer CD? 

Im Theater wird gerne mit unseren Höhrgewohnheiten gespielt. Unsere Wahrnehmung ist von bestimmten Rahmungen geprägt, denn es gibt ungeschriebene Gesetze, nach denen wir uns verhalten sollen. Wenn ich daheim eine CD anhöre, kann ich nebenbei etwas essen oder mein Bonbonpapier auspacken. Im Konzertsaal wäre das eher ungünstig. Wenn ich im Konzert sitze, nehme ich die Orchestermusiker*innen nicht als Schauspieler*innen wahr. Ich stelle mir also nicht vor, was für eine Rolle sie gerade verkörpern oder was für eine Geschichte sie erzählen wollen. Das einzig Wichtige ist die Musik. Wenn ich merke, dass ich gedanklich abschweife, ertappe ich mich ja dabei und denke, ich habe etwas falsch gemacht. Im Theater habe ich andere Erwartungen. Hier wird mir etwas vorgespielt, es gibt Figuren und vielleicht eine Geschichte. Wenn sie auf der Theaterbühne drei Minuten lang nur einen Popsong abspielen, sind das für die Zuschauer*innen drei unglaublich lange Minuten. Wenn ich aber auf ein Konzert gehe und dort drei Minuten lang einen Popsong höre, empfinde ich das wahrscheinlich als kurz. Wenn Musik im Theater ohne untermalende Funktion auftritt, ist das zuerst irritierend. 

Wie sieht ein ‚irritierender‘ musikalischer Moment aus?  

Ziemlich am Ende von „20th Century Blues“ von Christoph Marthaler tritt eine klassisch ausgebildete Sängerin, Rosemary Hardy, auf und beginnt das „Abschied“ aus „Lied von der Erde“ von Gustav Mahler zu singen. Das Lied dauert 30 Minuten und sonst passiert nichts mehr. Für den Konzertzuschauer, der Mahler erwartet, ist das kein Problem, aber für den normalen Theaterbesucher fast schon eine Provokation.

Welche weiteren Unterschiede gibt es?

Im Konzertsaal erwarte ich eine perfekte Akustik. Diese ist im Theater nicht immer die oberste Priorität und wird gerne bewusst verzerrt. Manchmal wird Musik so eingespielt, dass sie nur von hinten aus den wummrigen Boxen kommt oder jemand singt schief. Aber das hat trotzdem eine Zerbrechlichkeit oder Verwundbarkeit, die für die Figur kennzeichnend ist. Ich habe selbst einmal in einer Inszenierung „Barbie Girl“ von Aqua verwendet, ein für mich schrecklicher Song, der aber wunderbar in die Szene passte. Das ist ein anderer Kontext, als wenn man es unironisch verwenden würde. Dieses Um-die-Ecke-hören, etwas ironisch oder als Zitat wahrzunehmen, das gibt es im Konzertsaal seltener.

Warum ist die Musik so produktiv für das Theater?

Das hat zunächst pragmatische Gründe. Musik ist in gewisser Weise immateriell. Ich kann mich auf die Bühne stellen und singen, dafür brauche ich nicht mehr als meine Stimme. Für wenig Kosten herrscht sofort eine gewisse Atmosphäre oder Emotion im Raum. Musik kann der Dramaturgie Rhythmus verleihen und generell verschiedene Funktionen in Bezug auf das Drama erfüllen. Wenn ich höre, wie Jimi Hendrix die amerikanische Nationalhymne zerschreddert, dann weiß ich sofort, wo, wann und in welchem politischen Kontext ich bin und was mir das erzählen soll. Musik dient als Speicher für gemeinsame und geteilte Erinnerungen, bestimmte (Sub-)Kulturen und Kontexte. Sie kann Zuschauer*innen abholen und einlullen oder sie wahnsinnig nerven. Wir reagieren auf weniges so emotional wie auf Musik, die zu laut oder zu schrill ist. Die Musik ist in ihrer Multifunktionalität das Schweizer Taschenmesser der Theatermittel.

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Christopher Bertusch - Redaktion

Wünschte er würde Klassik mögen, hört aber lieber Hyperpop-Remixe von Hits der 2000-2010er Jahre, mit passenden 240p-Musikvideos. Mag daneben alles, was ordentlich fetzt, aber gerne auch zum Weinen bringt.

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