Sein letztes Konzert von dieser Tour fand in der Berliner Zitadelle in Spandau statt. Ein Konzertbericht.
„Könnt ihr bitte alle mal etwas zurückgehen? Geht mal zurück!“, ruft ein Mädchen aus der vordersten Reihe. An die Barrikaden gequetschte Körper seien kurz vor dem Umfallen, 32 Grad und Mittagshitze scheinen von oben auf alle Wartenden. Es liegt Chaos in der Luft, Ungeduld. Je mehr Stunden vergehen, desto eher gehen diese Gefühle in Unfreundlichkeit, beinahe Aggression über. Kaum zu glauben, dass es sich um Fans eines Indie-Folk-Künstlers handelt.
Am 27. August spielt Noah Kahan, der im vergangenen Jahr einen Beliebtheitsschub wie nie zuvor erleben durfte, sein letztes Konzert der „We’ll All Be Here Forever“-Tour in Berlin. Die Location: die Zitadelle in Spandau. Nur über eine Brücke über einen kleinen Fluss zugänglich, erscheint das Anwesen besonders in der Abendsonne magisch. Die außerordentlich schlechte Organisation des Konzertes kommt der Magie leider Gottes in die Quere. Während zahlreiche Fans sogar aus Kanada nach Berlin zum Konzert anreisten, können die meisten Angestellten nur brockenhaft Englisch und müssen wartende Personen übersetzen lassen, um Ruhe in die Menge bringen zu können. Das ist nicht alles: Fans verteilten Nummern, um sich nach diesen in der Schlange anzustellen, Security-Personal macht das gesamte System wieder zunichte und lässt alle ungeordnet in das Schloss hinein. Drängeln und Schubsen waren vorprogrammiert und finden dementsprechend statt, Angestellte wirken überfordert. Als später ein Mädchen vor Durst fast umkippt und Herumstehende darauf aufmerksam machen, wird lediglich ein Pappbecher an Wasser vom Security-Personal in die Menge gereicht. Aber wieder zur Musik.
Am Platz für die nächsten Stunden angekommen, geht ein weiteres Warten los. Der Einlass hatte um 17 Uhr gestartet, Maisie Peters öffnet den Musikabend gegen 18:40 Uhr. Und wie sie ihn eröffnet. Die Fans der beiden Künstler:innen überschnitten sich, das wissen viele, das weiß Peters auch. Die junge Pop-Sängerin singt für ganze 40 Minuten, fängt punktgerecht mit „Coming Of Age“ an, singt von „Body Better“, „Love Him I Don’t“ bis hin zu einem Cover von „Mr. Brightside“ und hört mit „History Of Man“ auf. Ihre Präsenz erfüllt die gesamte Bühne und sie hat sichtlich Spaß am Auftritt – mit kurzer Unterbrechung einer noch einmal gut gegangenen Wespenattacke. Wie immer tritt sie in T-Shirt und kurzem Rock auf. Typisch 24 eben. Noah Kahan beschreibt ihre Zukunft später selbst:
„I’m so amazed by her songwriting and I know she’s going to be on top of the world so soon.“
Nach weiteren 30 Minuten Wartezeit, nach wie vor drückender Sonnenstrahlen und wenig Wasservorrat, dafür aber Runden von „Wer bin ich?“ in der Menge, wird die Bühne leise und das Publikum laut. Noah Kahan läuft in einem weißen Outfit („Today I’m dressed like a cult leader, I also don’t know why“) nach vorne und wird jubelnd begrüßt. Obwohl dieses Konzert das letzte seiner Tournee war, scheint seine Stimme so gesund und stark wie beim ersten zu sein. Kahan hört sich genauso an wie auf seinem Album „We’ll All Be Here Forever“, schmückt seine Songs und seine Stimme mit Variationen aus und zeigt seine Bandbreite an Tönen.
Er brauchte nicht mehr als einige Gitarren und sich selbst, denn dafür waren alle da. Wenig Show, viel Musik. Bandmitglieder, die sichtlich mit ihren Köpfen bei der Sache sind, mal mitswingen, immer leise mitsingen und die Kahan später als beste Freund:innen bezeichnet. Bei der Vorstellung und dem Bedanken seiner Kolleg:innen dürfen alle ihr Können zeigen: Vom Bass über das Schlagzeug bis hin zum Piano und der Geige. Jede:r hat einen kurzen Spotlight-Moment und das Publikum zollt dem gezeigten Talent Beifall.
In einer Mischung aus Konzert und Comedy Show schafft es Noah Kahan, seine Fans für knapp zwei Stunden grandios zu unterhalten. Er dankt langjährigen Zuhörer:innen und will scherzhaft Neuankömmlinge rauswerfen lassen. Ein andern Mal sei er kurz davor gewesen, den Mittelfinger zu zeigen, sollte das Publikum bei „False Confidence“ nicht mitsingen, droht er. Lautes Gelächter, die Wärme der Gemeinschaft ist zumindest an diesem Punkt lautstark zu fühlen.
Kahan singt die meisten seiner neuesten Songs, mischt nur ein paar seiner alten dazwischen, wie etwa „Maine“ oder „Godlight“. Mit Fotos aus seiner Kindheit und einem schmal ovalen Licht auf den Sänger und seine Band, alle sitzend, gerichtet, fühlt sich das ausverkaufte und bis zu 10.000 Personen fassende Freiluftkonzert beinahe an, als wäre es an einen selbst gerichtet. Kahan bringt die Privatsphäre so in die Hauptstadt. Auch ein noch nicht veröffentlichtes Lied bekommt Platz auf der Bühne: „Pain Is Cold Water“. Drei Lieder, die Herzen berühren.
Stichpunkt Herzen: Kahans Konzert ist ein Raum, in dem gefühlt werden kann – und es wird viel gefühlt. Mal wird mitgetanzt, wie etwa bei „Dial Drunk“ gleich als erstem Song, öfter wird eine Träne verdrückt, wenn nicht sogar ganz geweint. So lösen besonders „Call Your Mom“ und „Orange Juice“ bei einigen, so auch bei mir, tiefe Emotionen aus und lässt Salzwasser aus meinen Augen fließen. Freund:innen, die erst wenige Stunden zuvor gefunden wurden, werden tröstend in den Arm genommen und so von ehemals Fremden aufgefangen. Beim Anstehen waren orangene Blätter verteilt geworden, die nun vor den Blitz der Kamera gehalten werden und warmes Licht in der Nacht erscheinen lassen. Von der anfänglichen Aggression ist nichts mehr zu spüren. Zum Glück.
Bei der Zugabe singt er, wie erhofft, „View Between Villages“ und endet schlussendlich, wie vorhergesehen, mit „Stick Season“. Doch eine sogenannte „post-concert-depression“ kann gar nicht einsetzen: Sobald die Lichter auf der Bühne aus sind, ertönt „Hot To Go“ von Chappell Roan – und alle stimmen direkt ein, tanzen mit. Vielleicht wussten die Organisator:innen doch ein klein bisschen, was zu tun war.
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