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Rastloses Experimentieren auf 80 BPM 

4. Juli 202410 Min. gelesen

Mitte der 90er hatte der TripHop seine Hochphase. DJs und Gruppen aus UK, Österreich und Japan entwickelten im Underground einen neuen Sound mit entspannten 80 Beats per Minute. Ein Einblick in die Ursprünge und prägenden Werke eines Genres voller Experimentierfreude.  

Die aufgeputschte deutsche Chartlandschaft macht manchmal sehr träge. Alles voll mit Technobeats oder Trap-Beats, zwischendrin klebriger Indie mit kratzig-sanften Männerstimmen und dann noch „Major Tom“. Lösen wir uns von dieser musikalischen Einöde einmal völlig los. Entspannen wir die Ohren mit ein bisschen TripHop. Es geht hinein in die 90er, weit weg von energischen Drums und peitschenden Beats runter auf entspannte Frequenzen von rund 80 BPM. 

Was ist TripHop? Keine leichte Frage

Hinein in das Jahr 1994, in dem ein Musikstil den Mainstream eroberte, von dem sich bis heute nur vage sagen lässt, was dieser genau ist. „Eine Fusion aus langsamen Hip-Hop-Beats, jazzigen Arrangements und Elektronik“, „eine Mischung aus psychedelischen Electro und Hip Hop“, „Funk, Reggae, Soul, Punk, Fela Kuti und französische Filmmusik“. Bei der Recherche zu TripHop landet man schnell in einem Labyrinth aus Versuchen einer Definition dieses Genres. 

Hier ein weiterer Versuch das aufzudröseln: Es geht oft langsam und entspannt zu, manchmal melancholischer und die Beats rollen so dahin, manchmal leichte Jazz-Akzente, manchmal klingt es wie ein Hip Hop-Instrumental. Immer mal wieder kitzeln sanfte Frauenstimmen das Trommelfell, aber auch vereinzelte Rap-Parts sind zu hören. Doch nie wirklich aufdringlich, der Vibe steht im Fokus, nicht die Texte. Dazu Soundeffekte und zwischendurch immer wieder ein paar Scratcher oder ein krisseliges Vinyl-Knistern. Aber vor allem will diese Musik in keiner Genre-Schublade verstauben. Da liegt es schon irgendwie nahe, dass der TripHop in Großbritannien mitunter seinen wesentlichen Ursprung fand. 

Die Geburtsstätte des TripHop: Die kleine Küstenstadt Bristol in Südengland. Foto: Wikimedia Commons.

Genregrenzen sprengen in Bristol

Denn das Sprengen von Genregrenzen und starren Hörmustern, es hat in der jüngeren Musikgeschichte in den Städten des Königreichs fast schon Tradition. In den letzten Jahren – auch hier im Magazin – immer wieder im Fokus, die Jazz-Szene in London, die mit völlig neuen Sounds fasziniert. Dabei sind es sowohl beim Jazz heute als auch bei der Entwicklung des TripHops in den 90ern die vielen verschiedenen kulturellen Einflüsse, die sich oft so smooth und organisch zu einem Klang verweben. 

Auf Irgendwas versteifen wollte man sich so auch in der Underground-Szene im Bristol Anfang der 90er Jahre nicht. Eine kleine beschauliche Küstenstadt im Süden Englands und gleichzeitig auch eine der multikulturellsten Städte der britischen Insel damals. In den 70er Jahren strandeten hier viele Gastarbeiter aus der Karibik und brachten den Dub und Reggae mit. Einige Jahre später, Anfang der 90er, bildete sich, besonders im Arbeiterviertel St.Pauls, eine vibrierende DJ-Szene heraus. Es wurde rastlos mit Sampeln experimentiert und mit verschiedenen Soundeinflüssen gespielt. Es entwickelte sich der „Bristol-Sound“. Dieser ist gezeichnet von einer Melancholie und Dunkelheit, die nicht schwer, sondern so vielschichtig und inspirierend klingt. 

Meisterwerke des TripHop: Experimenteller Downbeat

Und so entwickelten sich aus den Underground-Parties heraus erste Longplayer und bekannte Namen in der Szene. Ein Name, der bis heute sofort mit dem TripHop verbunden wird: Massive Attack. Fast kein Album ist so symptomatisch wie das Debütalbum „Blue Lines“. Perfekt zugänglich für den Einstieg, verbrüdern sich hier mit einer Raffinesse und Coolness amerikanische HipHop-Beats und sphärischer Electro. Dazu die hypnotische Stimme eines Adrian „Tricky“ Thaws, der später als Solo-Künstler noch mehr bewegte. In der Hochzeit des TripHop bis Anfang der 2000er war „Massive Attack“ tonangebend. Zwischen diesem Klassiker und dem düsteren Meisterwerk „Mezzanine“ (1997) wird das zweite Album der Band „Protection“ (1994) oft verschluckt. Verwunschen und ruhig finden sich dort erstmals auch reine Instrumentalstücke, wie „Weatherstorm”. 

Mit eines der beeindruckensten TripHop-Alben und auch ein maßgebliches Album der 90er ist „Dummy“ (1994) von Portishead. Über 50 Minuten nimmt dieses Werk komplett ein. Es wälzt sich über die Hörenden eine perfekt arrangierte Sounddecke mit Einflüssen zwischen Ambient, Postrock und Downbeat. Knackige Drums, samtige Keyboards, kratzige Effekte führen auf eine falsche, sehr behagliche Fährte. Oft wird der Sound so als „Dinner-Musik“ missverstanden. Doch mit den komplexen Texten der so sanft und mystisch zugleich singenden Beth Gibbons kommt eine tiefgreifende kunstvolle Ebene auf die Songs. Es ist der verunsicherte Ausdruck einer abgründigen Welt und die sehnsuchtsvolle Suche nach Erlösung. 

„Aber wenn die Leute tatsächlich eine Dinnerparty veranstalten und unsere Musik auflegen würden, würde ich am liebsten mit einem Baseballschläger reingehen und ihr Fondue-Set derb zertrümmern“  

Geoff Barrow von Portishead über das oft missverstandene Debütalbum „Dummy“ 

Keine belanglosen Studybeats

Damit vereint dieses Album die zwei wesentlichen Charakterzüge des TripHops in Perfektion. Einen entspannten Vibe im krassen Gegensatz zum damals aufstrebenden Techno, der aber gleichzeitig so revolutionär und experimentell gedacht wird, dass dieser nicht in der belanglosen Bedeutungslosigkeit verschwindet. Diese Mischung macht die stilprägenden Alben bis heute zeitlos hörbar ohne zu unterfordern.   

Eigener Sound aus Österreich und Japan

Doch das Interessante ist dabei auch, dass zur gleichen Zeit in ganz anderen Teilen der Welt sich (wahrscheinlich) fast unabhängig davon Stile mit ähnlichem Schema entwickelten. Aus Wien und Tokio heraus bildete sich ebenfalls ein Sound, der dem aus Bristol sehr nahe kommt, aber gleichzeitig jeweils seinen spezifischen Charakter mitbringt. 

Vom Afro-Jazz bis Pink Floyd, aber auch von Dub und Rare Groove infiziert, suchten die DJs Kruder&Dorfmeister aus der Donaumetropole „nach einer universellen Sprache der Tanzmusik“. Auf ihrer ersten EP, „G-Stoned“ (1993), klingt das wesentlich forcierter als auf der Insel. Immer noch laid-back, fließend und organisch sind die Österreicher fast ausschließlich instrumental unterwegs. Der Fokus liegt hier auf der Untermalung der Beats mit spacigen Loops und Soundeffekten. Was Anfangs noch mehr nach Future Jazz klingt, geht auf dem ersten Album „1995“ (1995), auch so ein Meilenstein, an mancher Stelle deutlich mehr Richtung Drum‘n‘Bass, Ambient oder Broken Beat. 

Einen direkten, ungefilterten Einblick in die Kultur an den Turntables in den Tokioter Underground-Clubs gibt das erste Album “Krush” (1994) von Hideaki Ishi alias DJ Krush. Mit harten Beats, dem Sprühen der Spraydosen und ordentlichem Scratchen kommt das dem Hip Hop mit am nächsten im Kosmos der großen TripHop-Ikonen. Das kantet an, ist aggressiv und cool zugleich. Gleichzeitig klingt dies in manchen Parts sehr sphärisch und auch vernebelte Jazz-Elemente kommen bei Krush nicht zu kurz. Das sticht besonders auf seinem dritten Album „Meiso“ (1995) hervor.  

Noch viel mehr TripHop

Es fällt schwer, die ganzen Entwicklungen um dieses Genre in wenige Zeilen zu fassen. Die Grenzen sind fließend und im Laufe des Jahrzehnts entwickelt sich der TripHop durch prägende Werke immer weiter. DJs und Musiker:innen aus der ganzen Welt bringen ihre jeweils ganz eigene Interpretation der Downbeats hervor. Dies weiter zu beschreiben würde den Rahmen des Artikels sprengen. Deshalb seien, der Vollständigkeit halber, nur ein paar Namen noch genannt. Einen Legendenstatus haben mindestens auch DJ Shadow aus den USA, DJ Cam aus Frankreich oder auch Amon Tobin aus Brasilien. Interessant klingt auch die Auslegung des TripHop von Björk auf ihrem Album „Post“ von 1995.

Also Keep Calm and listen to 80 BPM. 

Titelfoto: Wikimedia Commons.

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Balthasar Zehetmair - Redaktion

Sucht den Sinn des Lebens in Bob Dylan Songtexten und findet ihn bei den Wildecker Herzbuben. Meistens in Schallplattenläden und immer mit Kopfhörern auf den Ohren zu sehen.

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