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Rhythmen der Ungleichheit

22. August 20245 Min. gelesen

Ein kleiner Urlaubsort an der Pazifikküste Mexikos: Hier läuft kein Reggaeton, sondern traditionelle rancheras. Eindrücke aus einem Land, in dem sich die soziale Ungleichheit in der Musik widerspiegelt.

Es ist ein Bild wie aus einem Reiseführer: Vier Männer in Lederschuhen laufen den Strand entlang, ihre weißen Hemden und Sombreros schimmern im gleißenden Sonnenlicht. Jeder von ihnen ist mit einem Instrument bepackt: eine Gitarre, ein Akkordeon, ein Kontrabass und eine Snare-Trommel. Hätten wir ein paar Pesos dabei, würden wir sie um ein Lied bitten. Dann würden sie uns einen norteño unserer Wahl spielen.

Meine Mutter (selbst Mexikanerin), meine Schwester und ich befinden uns am Strand von Melaque. Die kleine Ortschaft an der Pazifikküste Mexikos lebt vom Tourismus. In den Wintermonaten kommen viele Menschen aus den USA und Kanada hierher. Doch im Gegensatz zu Touristenmagneten wie Cancún, Tulum oder Puerto Vallarta ist der Ort vor allem bei Einheimischen beliebt. Und das hört man an der Musikauswahl. Während die Kinder im Wasser plantschen, versammeln sich unter den Sonnenschirmen mexikanische Familien und Freundesgruppen. Viele von ihnen haben einen Lautsprecher mitgebracht, es laufen traditionelle mexikanische Musikgenres: rancheras aus dem Bundesstaat Jalisco, norteños aus dem Norden des Landes.

Sounds der Arbeiterklasse

Man hört am Strand von Melaque keinen US-Pop und keinen Reggaeton. Die Sounds der hippen Lokale und Einkaufszentren der Großstadt sind hier in weiter Ferne. Vor dem brausenden Meer an der Küste Melaques erklingen nicht die Hits der Streaming-Giganten, sondern die Stimmen der mexikanischen Arbeiterklasse und der Alteingesessenen. Und wenn ein traditionell gekleidetes norteño-Quartett seine Dienste anbietet, kommt erst recht Stimmung auf.

No existe una formula para olvidarte”, singen ein paar Badegäste lauthals einen Song mit: „Es existiert keine Formel, um dich zu vergessen.“ Es sind Klänge, in denen die Ungleichheit Mexikos widerhallt. In Melaque verbringen vor allem Angehörige der prekären Bevölkerungsschicht ihren Urlaub. Sie bringen die Musik mit, die auf den tianguis im ganzen Land läuft: traditionelle Basare mit günstigen Preisen. In den gentrifizierten Vierteln der Großstädte scheppert es dagegen Dance-Pop- und Reggaeton-Beats aus den neu eröffneten Bars. Dort zieht es ebenso die obere Mittelschicht Lateinamerikas hin wie gut betuchte Menschen aus den USA, Kanada oder Europa.

Das Problem mit dem Wohlstand

Auch den meisten Tourist:innen am Strand von Melaque geht es vergleichsweise nicht schlecht. Zu ihrer Musik gibt es Tacos, Chips und Bier zu genießen. Ay, que rico! Unter vielen Sonnenschirmen stapelt sich indessen der Plastikmüll. Einweggeschirr und runde Bäuche stehen symbolisch für eine Gesellschaft, in der Reichtum nicht nur sehr ungleich verteilt ist; sondern in der der verantwortungsbewusste Umgang mit diesem Reichtum noch kaum diskutiert wird.

Doch es gibt eine Schicht in Mexiko, die auch von diesem kleinen Vorgeschmack auf echten Wohlstand weitgehend abgeschnitten ist. Kinder im Vorschulalter, die an der roten Ampel Lieder singen und sich von den Autofahrer:innen ein paar Pesos erhoffen. Oder die Strandverkäuferin, die in der prallen Sonne einen Obstkorb auf ihrem Kopf transportiert und mit einer Fliegenklatsche die Mücken zu vertreiben versucht. Als sie zu uns kommt und wir ihr Angebot dankend ablehnen, sagt sie unterwürfig: „Con permiso.“ Sie bittet um Erlaubnis. Erlaubnis wofür? Zu gehen.

Am Abend vor unserer Abfahrt sehen wir dann doch noch eine Live-Band in Melaque. Die Kinder aus dem Ort treffen sich gerade am Strand und schmeißen sich in die hohen Wellen, surfen auf Brettern am Ufer entlang. Da treffen wir auf ein weiteres Quartett, das womöglich von einigen Besucher:innen engagiert wurde. Eine Trompete spielt einen temporeichen Rhythmus, dazu eine Tuba, eine Klarinette und Perkussion. Im Vorbeigehen sehen wir, wie eine Gruppe von Menschen dazu tanzt. Eine Weile lang hören wir die Musik nachhallen, bis der stete Rhythmus der Wellen sie schließlich übertönt.

Foto: Felix Meinert

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Felix Meinert - Redaktion

Schon mit fünf Jahren war ich musikalisch begeistert: Damals trat ich mit meiner Fantasieband vor meiner Familie auf, sang (besser: schrie) auf meiner Fantasiesprache und trommelte mit Plastikstöcken unkontrolliert auf meinem Hüpfball herum. Da der ersehnte Durchbruch aber ausblieb, tobe ich mich heute lieber beim Hören und Schreiben aus. Oft feuilletonistisch, gerne nachdenklich bis nörglerisch, stets aber von Herzen schreibe ich über so ziemlich alles zwischen Rock, Pop, Folk, Hip-Hop, Jazz und elektronischer Musik.

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