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Searching for Sixto Rodriguez

21. September 202311 Min. gelesen

Nun ist er verstorben, es traurige Realität. Über Umwege wurde der amerikanische Singer-Songwriter nicht nur zur Ikone, sondern auch zum Mythos. Ein mehrmals totgesagtes Genie, das mit seiner Musik zeitlose Kraft verstrahlt. 

Erfolg wird in der Musikindustrie auf genau eine Weise gemessen. Silberne, Goldene, Platin-Platten sind die an den Wänden der erfolgreichsten Musikproduzent:innen hängenden Gütesiegel der großen Hits und Alben, die die Massen berühren konnten. Genau wie die Top-100 und „Recommended Artists“, die uns vorgeschlagen und -gespielt werden, basieren sie auf der Anzahl von gekauften Tonträgern, auf Radio-Airtime, auf gezählten Streams. Es ist meistens kein faires Spiel, und keinesfalls besonders aussagekräftig über die musikalische Qualität der Gewinnenden. Denn die Musikindustrie belohnt nicht allein Leistung oder Talent. Viele Künstler:innen finden ihren Weg nie auf die Bühnen, die sie verdienen. Egal, wie bildgewaltig und poesiegeladen ihre Texte sind. Wie eingängig und aufrüttelnd ihre Melodien. Manche künstlerische Genies bleiben ein Leben lang gescheiterte Talente. So ein Künstler war Sixto Rodriguez.

“American Zero”

Der gebürtige Detroiter begann in den späten 1960er Jahren, in Bars und Clubs in seiner Heimatstadt als Singer/Songwriter aufzutreten. Leute, die ihn aus dieser Zeit kennen, sahen ihn als „Drifter“, eine Art rolling stone in der Stadt, die mit Motown Records und Bands wie MC5 ein Zentrum der amerikanischen Musikszene geworden war. Rodriguez spielte mit dem Rücken zum Publikum, in Ecken gedrängt, mied die Aufmerksamkeit. Seine Musik sprach für sich. Er wurde von Produzenten entdeckt, ohne viel Zögern von Sussex Records unter Vertrag genommen und veröffentlichte zwischen 1970 und 1971 unter dem Label zwei Alben: „Cold Fact“ und „Coming From Reality“. Ein vielversprechender Beginn einer zu Größerem bestimmten Karriere. Nur war es bereits das Ende. 

Der Erfolg blieb aus, die Platten verkauften sich nicht, und zwei Wochen vor Weihnachten 1973 wurde der Vertrag Rodriguez‘ zerrissen. Es blieben die einzigen beiden Alben, er nahm danach keine weitere Musik auf und verschwand wieder von der Bildfläche – zumindest in der amerikanischen Musikwelt. In Australien war er, ohne Zutun des amerikanischen Labels, nach und nach so erfolgreich, dass er hier nach einigen Jahren mit der heute vielgeliebten Band „Midnight Oil“ touren durfte. Und in Südafrika, damals noch der abgeschottete und menschenfeindliche Apartheid-Staat, wurde er nicht nur erfolgreich: Er wurde zur Ikone.

„Searching for Sugarman“

Bekannter als Dylan und Elvis, Stimme einer Generation, die noch gar nicht wusste, dass sie eine Stimme brauchte – bis sie die ersten Worte von „Cold Fact“ hörte. Geschätzt eine halbe Millionen Tonträger wurden verkauft, „Cold Fact“ schaffte es in Südafrika zur vielfach Goldenen Schallplatte. Das Geld floß zurück nach Amerika. Aber nicht in die Taschen von Rodriguez. In Südafrika ist er zum Mythos geworden, mehrfach für tot erklärt, ein Gespenst über das nichts bekannt ist – nur ein Bild, kein Mensch, der in der Zwischenzeit, von seinem Label wahrscheinlich um das erwirtschaftete Geld betrogen, in Detroit mit harter körperlicher Arbeit gerade so über die Runden kommt. Die Frage, die sich seine Fans stellen, der sie mit jahrelangen Recherchen und auf Internet-Foren nachgehen ist: „How did Rodriguez die?“, nicht „Where is he now?“. Denn die Wahrheit ist unglaublicher als jede erfundene Story von Selbstmorden auf der Bühne. Und als die Antwort dann, 20 Jahre nach Rodriguez‘ letztem Auftritt, lautet: Er lebt, er ist in Detroit, und hätte nichts dagegen, durch Südafrika zu touren, ist die Ekstase groß. Aber auf den Aufnahmen aus dem Jahr 1998 wirkt niemand glücklicher als Rodriguez selbst. Wiederentdeckt als Künstler, bejubelt von Tausenden Fans, von denen er nichts wusste. Er ruft in die Menge: „Thanks for keeping me alive!”. Es fühlt sich an wie ein Wiedersehen. Eine lang ersehnte Rückkehr. Er tourt danach immer wieder in Südafrika, wird auch im Rest der Welt bekannt durch die Absurdität seiner Geschichte. Die Karriere bleibt aber dennoch aus.

„My most memorable artist“

Die Frage, die über allem hängt, ist offensichtlich: Wie konnte Rodriguez nicht erfolgreich werden? Seine Entdecker und Förderer schwärmen noch heute von der Einzigartigkeit seiner Musik, seiner Texte. Dennis Coffey vergleicht ihn mit Bob Dylan als einzigem, der noch besser schrieb. Label-Inhaber Clarence Avant nennt ihn in einem Atemzug mit anderen Superstars aus Detroit wie Marvin Gaye. Und hört man seine Alben, versteht man sie beide. 

Die Breite des musikalischen Portfolios, das sich in seinen knapp 20 Liedern entfaltet, ist enorm. Beeindruckende orchestrale Inszenierungen schließen an schlichte, persönliche Protestlieder an. Rodriguez‘ Stimme ist neu und doch vertraut, seine Texte abwegig und doch unvergleichlich in ihrer Fähigkeit, tiefste Emotionen verständlich zu machen. Melodisch reißen die Lieder mit, lassen träumen, rühren und erzürnen – regen an zum Nachdenken, zum Auf-die-Straße-Gehen, aber auch zum Weinen. Die beiden Alben entführen die Sinne zurück in die Jahrzehntwende zwischen den 1960ern und 1970ern, dokumentieren die immer freiere Entfaltung der Musik, die Innovation der Technik, die unendlichen Möglichkeiten der Zeit. Gleichzeitig sprechen sie von einem Amerika, das sich beginnt von den Schwachen weg zu entwickeln, ein Amerika, in dem auf dem Papier alle gleich und in der Realität manche  gleicher sind als andere. In einer guten Stunde Musik – so viel bleibt von Rodriguez in der Welt der Musik – eröffnet sich ein Kaleidoskop von Talent, Weisheit, Bodenständigkeit, Zynik und Hoffnung, Freiheit und Stagnation: ein Mix, den es so nicht davor und nicht noch einmal gab. Persönliche Highlights sind der ansteckende Rocksong “Hate Street Dialogue“ und das nachdenkliche Medley „Sandrevan Lullaby – Lifestyles“. Beide stellen einen Mikrokosmos des Künstlers dar: die Verbindung einer Bildersprache mit der drückenden Realität der Politik und seines eigenen Lebens, die Verbindung der Grazilität des Musikers mit der Vehemenz des Arbeiters.

„the artist is the pioneer“

Wenn man sich nur fragt, wieso Rodriguez nicht zum Sänger des Jahrzehnts wurde – wieso „Sugarman“ nicht die Hymne der amerikanischen Counterculture wurde oder „Think Of You“ der Go-To-Song für junge Liebespaare auf der ganzen Welt, „A Most Disgusting Song“ nicht in jeder „Vietnam-Krieg“-Playlist zu finden ist oder „Cause“ in der Top 10 Songs of the 70s-Liste auftaucht – reduziert man einen beeindruckenden Mann zu einem enttäuschenden Musiker. Rodriguez war sicher ein verkanntes Genie. In den Worten derer, die ihn nach seiner gescheiterten Musikkarriere kannten, wird aber deutlich, dass Rodriguez selbst als blue collar worker ein Künstler blieb. Man muss nicht vor Hunderttausenden bei Festivals auftreten, um einen Abdruck in dieser Welt zu hinterlassen. Sei es als aufopfernder Vater, als inspirierender Kollege, als Aktivist, der für die Interessen derer Eintritt, die sonst keinen Fürsprecher finden. Rodriguez schaffte es auch so, durch die Banalitäten des Alltags zu schneiden, in den unscheinbar wirkenden Dingen die Poesie, das Besondere zu finden. Rodriguez war kein verkannter Charakter. Er wird gewürdigt als sanfter, bescheidener, cooler „working class man“, der, fast schon nebensächlich, auch unfassbar schöne Musik schrieb und veröffentlichte und zufälligerweise in Südafrika verehrt wird. Erfolg wird in der Musikindustrie mit Zahlen gemessen. Rodriguez’ Erfolg ist nicht messbar. Es schmälert ihn nicht. Rodriguez’ Erfolg transzendiert den industriellen Fokus auf verkaufte Platten. Sein Erfolg ist heute noch spürbar, wenn einem beim Zuhören die Haare zu Berge stehen. 

Besonders treffend verbildlicht die Filmbiographie „Searching for Sugarman“ in ihrer stärksten Szene sein Leben als Musiker, als Mensch. Darin sieht man einen alten, von harter Arbeit gekrümmten Mann. Er kämpft sich durch den frischen, nur widerwillig nachgebenden Schnee, der die Straßen der verfallenen Detroiter Vorstadt bedeckt, stolpernd, frierend, allein; aber am Ende findet er nach Hause, zur Wärme des eigenen Ofens.

Sixto Rodriguez starb am 08.08.2023 in seinem Haus in Detroit eines natürlichen Todes. Er wurde 81 Jahre alt.

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