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Seit 20 Jahren ist the power out

29. Februar 20247 Min. gelesen

Transzendentale Soundscapes, vier Sprachen und ein Nietzsche-Zitat: Vor 20 Jahren brachten die Musiker:innen von Electrelane ihr Magnum Opus „The Power Out“ heraus. Eine Retrospektive.

Bevor ein Orchester zu spielen beginnt, stimmen die Musiker:innen in einer gigantischen Kakophonie voll unerwarteter Harmonien ihre Instrumente. Ähnlich entfaltet sich in einer entspannenden Sanftheit der Einstieg in dieses wirklich einzigartige Album. Erst die stet bleibende, simple und fast schon schüchterne Gitarrenmelodie, dann der sich Bahnen brechende, Tiefen liefernde Synthesizer-Sound, dann kickt das Schlagzeug in den ersten Gang – „Gone Under Sea“ heißt der Aufmacher, in und als diese Elemente gemeinsam mit dem (französischen) Gesang in einem unaufgeregten und doch wirkmächtigen Crescendo enden, befindet man sich schon mit Jules Verne 20.000 Meilen unter dem Meer. Dieses Gefühl einer atmosphärischen Entführung, des Eintauchens in eine andere Welt, ist der „ideologische“ rote Faden von „The Power Out“ der Band Electrelane, nun schon 20 Jahre alt.

The Power Out

Die Vorgeschichte der LP ist schnell erzählt und bietet nicht die üblichen Anekdoten der Zufälle, glücklichen Umstände oder epischen Kraftakten, die solch bewegende Alben manchmal mit sich bringen. Nach dem Debüt-Album „Rock It To The Moon“ von 2001, noch rein instrumental und an Stellen im eigenen Anspruch an musikalischer Excellence verloren, geht es eigentlich ganz einfach: „I sent him ‚rock it to the moon‘, and he sent me an e-mail saying he would like to work with us.“ Die Rede der Gitarristin Mia Clarke ist hier vom Aufnahmeleiter Steve Albini, Produzent von unter anderem „Surfer Rosa“ der Pixies oder „In Utero“ von Nirvana und mittlerweile professioneller Pokerspieler. Die Band produziert das Album trotzdem selbst, Albini darf nur Recorder sein. Im Februar 2004 ist es dann soweit.

On Parade

Auf den langsamen Anfang folgt das vielleicht energiegeladenste Paradestück (kein Wortwitz beabsichtigt) „On Parade“, das es versteht, mittels seines Rhythmus und eingängiger Gitarrenriffs mitzureißen – dann durch ungewohnte vokale Eskapaden zu überraschen und am Schluss heraus schreiend sein Publikum anzuzünden. Bevor man jedoch zu sehr aus den entrückten Sphären sozusagen auf den Boden der Tanzfläche gezogen wird, liefert das anschließende „The Valleys“ mithilfe des A-capella-Chors aus Chicago und einer lyrisch begleiteten Berg- und Talfahrt eine gewisse Sedierung. Die ist auch nötig, denn danach kommt mit „Birds“ ein emotionaler Höhepunkt, in dem Mia Clarkes Gitarre hervorragend mit Verity Sussmans Gesang harmoniert, während Emma Gazes Schlagzeug wie Schneeflocken herunter rieselt – auch hier baut sich über den Song eine Spannung auf, deren Auflösung Gänsehaut verursacht.

This Deed

In die Mitte des Albums leitet „Take The Bit Between Your Teeth“ weiter, das mit einem sich selbst anspornenden Gitarren-Solo überzeugen kann. Geprägt ist dieser Teil des Albums aber eher von der Kreativität der textlichen Gestaltung, die mit dem spätmittelalterlichen Sonett „O Sombra“ (dt. “O Schatten”) des Katalanen Juan Boscán Almogáver und einem Auszug aus Friedrich Nietzsches bekannten „Gott ist tot“-Aphorismus gänzlich aus dem Schema eines Pop-Albums herausbricht – auch weil dadurch Sprachen 3 und 4 in den Mix mit aufgenommen werden. Dabei schaffen Electrelane es, das blumige und veraltete katalanische Gedicht gleichzeitig voller Charakter zu füllen, ohne den verzweifelten Tonfall des Dichters zu verlieren – der Appell an den Schatten hinterlässt Eindruck. Im Kontrast dazu steht die ständige Wiederholung eines einzigen Nietzsche-Satzes: „Diese Tat ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne — und doch haben sie dieselbe getan!“ Der Bezug des Zitates auf die Ermordung Gottes wird allein schon durch die musikalische Umsetzung deutlich und endet in der persönlichen Aufforderung an den Schöpfer: „Hände hoch!“ Eingerahmt hierdurch bietet „Enter Laughing“ eine von all der Dramatik befreite Pause, die an plätschernde Bäche und windgestreifte Sommernachmittage erinnert.

Love Builds Up

Zum Schluss beweisen die Musikerinnen einmal mehr ihr Verständnis für das Erschaffen, Verwerfen und Vorantreiben instrumentaler, transzendentaler Soundscapes, die ohne oder nur mit wenigen Worten auskommen und doch nicht an ihrer Bedeutung zweifeln lassen. „Love Builds Up“ könnte fast als programmatisches Klangstück betrachtet werden: ein Musik gewordenes Sinnbild für die immer wiederkehrenden verzweigten Build-Ups, die sich zu intensiven und gefühlsreichen Gipfeln zuspitzen. „Only One Thing Is Needed“, beginnt und endet mit einer unter Strom stehenden Keyboard-Melodie. Dem Zusammen- und auch Gegenspiel des Klaviers und des Schlagzeugs in „You Make Me Weak At The Knees“ gelingt es, mit einer Art emotionaler Spannung zwischen den Instrumenten, die zeitweise abgehobene und allumfassende melodische Führung herunterzubrechen. Man findet sich, abseits alles Aufgeregten und Aufregenden, was zuvor kam, in der angenehmen Ruhe eines lichtdurchfluteten Proberaums in einem Konservatorium.

Out for 20 years

„The Power Out“ mag an Stellen hochtrabend, kitschig und nicht raffiniert genug sein. Die Aufbauten der Songs sind oft sehr deckungsgleich: der langsame Einstieg, die aufnehmende Fahrt des Schlagzeugs, der durch die Tristesse brechende aufwühlende Schluss. Im Vergleich zu ihrem Vorgänger- oder Nachfolge-Album fokussieren sich hier aber die Stärken der musikalisch äußerst talentierten Band zu einem Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Das Album ist eine Dreiviertelstunde der Realitätsflucht, der Träumerei, der Inspiration. Auch 20 Jahre später erscheint es als modern und innovativ, hat nichts von seiner an so vielen Stellen an die Oberfläche gebrochene Magie verloren. Electrelane ist seit über 15 Jahren in der Versenkung verschwunden und wird nach einem gescheiterten Versuch der Wiederbelebung 2021 wohl nie wieder Musik veröffentlichen. Ihre Diskographie enthält am Ende viel rein instrumentale, langatmige und überbordend ambitionierte Songs. „The Power Out“ bleibt als singulärer Moment ihres Genies weiterhin das Beste, was Electrelane zu bieten hatte — und macht nun schon seit zwei Jahrzehnten Lust auf ein Mehr, das nicht mehr kommen wird.

Coverbild: Emma Gaze

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