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The Times They Are A-Changing 

20. März 20256 Min. gelesen

Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Wohin man sich auch wendet, gibt es Dinge, gegen die man protestieren möchte. Aber wieso regt sich in der populären Musik kein Wille zum Protest? Wieso gibt es keinen modernen Bob Dylan, der den unzufriedenen Massen eine Stimme gibt? 

Es gibt nichts Besseres als eine Zugfahrt, um die Gedanken schweifen zu lassen. Und so fand ich mich vor einigen Wochen in einem Zug nach München, der in spätwinterlichem Grau an trocken gefrorenen Feldern vorbeiflog. Und ich dachte nach. Über die Zukunft, die sich mit der anstehenden Bundestagswahl ungewisser als je zuvor ausbreitete. Über die Vergangenheit, die Wahl in den USA, den Diskurs der letzten Monate, eine bröckelnde Brandmauer, Proteste gegen Rechts, den aufgegebenen Kampf gegen den Klimawandel, Krieg und Völkermord. Der Soundtrack, der in mir diese Gedanken anstieß, war Musik aus den Siebzigern. Es war Protestmusik, Protest gegen Jahrzehnte alte Probleme – und ich dachte mir, dass es keinen Song von heute gäbe, und auch keinen aus dem letzten Jahr, der mich in ähnlicher Weise zum Nachdenken angeregt hätte. 

Nicht viel später saß ich wieder in einem Zug, nachdem ich den Film „A Complete Unknown“ gesehen hatte. Ein Film, der eindrücklich die kulturelle Wirkkraft des musikalischen Protests darstellt – allerdings die Wirkkraft von Liedern, die im Kontext der Kubakrise, der Civil Rights – Bewegung geschrieben wurden. Lieder, denen ein zeitgenössisches Ebenbild völlig zu fehlen scheint… Ich fragte mich: Where have all the protest songs gone?

Where have all the protest songs gone?

Was ist überhaupt ein Protest-Song? Eine mögliche Definition, die hilfreich erscheint, stammt von Dorian Lynskey: „(…) in its broadest sense, [ it describes] a song which addresses a political issue in a way which aligns itself with the underdog.” Es gibt natürlich auch heute Songs, die dieser Definition nach dem Protest gewidmet sind. Vor allem in der Subkultur. Aber auch massentaugliche Protestmusik gibt es, so wie „Hind‘s Hall“ von Macklemore oder die Performance von Kendrick Lamar beim diesjährigen Super Bowl. Im Kontrast dazu stehen aber Alben wie „The Freewheelin‘ Bob Dylan“ (USA: Platinum, #22 / UK: Gold, #1), oder “The Times They Are A-Changin“(USA: Gold, #20 / UK: Gold, #4), die zum Drittel oder sogar zur Hälfte aus Protest-Songs bestehen, und darunter mindestens fünf der bekanntesten Songs der Sechziger Jahre beinhalten. 

Auch wenn man sich Listen zu den besten Protest-Songs ansieht, wird schnell klar, wieso die 60er oft das goldene Zeitalter der Protest-Songs genannt werden und die letzten Jahrzehnte vermehrt Artikel wie diesen hier sehen, die sich fragen was mit dem Genre passiert ist. Der Trend ist nicht der Freund der Protest-Musik. Was man verschwinden sieht, sind die großen, viel gehörten Protest-Songs einiger der meistverkauften Musizierenden. Dabei gibt es bekannte und einflussreiche Interpret:innen, die politisch werden können. Wie zum Beispiel Taylor Swift, deren simple Unterstützung für Kamala Harris jedoch in sich selbst zum Politikum wurde. Oder Kendrick Lamar, oder Beyoncé. Die haben sogar 2016 zusammen einen Protest-Song veröffentlicht, den ich gar nicht kannte. Der scheinbar stete Rückgang an prominenten, populären Protest-Songs liegt also nicht nur daran, dass sich die bekanntesten Künstler:innen nicht mehr für Politik interessieren; oder daran, dass sie sich nicht mehr trauen, welche zu machen. Woran könnte es dann liegen?

The Bigger Picture

Natürlich haben sich die Musikindustrie und der Konsum von Musik seit der Hochzeit der Protestmusik radikal gewandelt. Radiostationen wurden abgelöst durch Streaming-Dienste, Labels und Künstler:innen promoten ihre Musik auf Social-Media-Plattformen. Leidet darunter die Protestfähigkeit der Musik? Auf den ersten Blick hindert vor allem die so entstandene, Algorithmus-basierte Verbreitung von Musik wirklichen Protest: Wer zum Beispiel in den USA gegen die von Tech-Milliardären gestützte Regierung musikalisch ankämpfen will, ist mehr oder weniger gezwungen, sich auf deren Plattformen zu präsentieren. Wenn besagte Tech-Milliardäre dort Dissens jedoch systematisch klein halten, wird es auch schwer für Interpret:innen, Zuhörer:innen zu finden. 

Auch Lobbyismus und Monopolisierung von globalen Unternehmen könnten ihren Teil für den Nachlass an Protestmusik geleistet haben. Es ist zum Beispiel schwer vorstellbar, einen Song im Protest gegen die Festnahme des pro-palästinensischen Columbia-Studenten Mahmoud Khalil von der Warner Music Group veröffentlicht zu sehen. Die gehört nämlich einem russischen  Oligarchen, welcher unter anderem 2024 in Zusammenarbeit mit anderen Geschäftsmännern und dem New Yorker Bürgermeister veranlasste, Polizei auf den Columbia-Campus zu schicken. 

Dazu kommt die größer gewordene Selektivität der individuellen Musikauswahl. Songs werden nicht mehr im Radio gehört, sondern in kuratierten Playlists. Wer kein Interesse daran hat, Kendrick Lamar zu hören, wird es selten zufällig tun. Genau diese unbeeinflusste Verbreitung durch das Radio ist es, was der Musiksoziologe R. Serge Denisoff als großen Vorteil der Protestmusik in den 60ern hervorhob. 

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