Eine fiktive amerikanische Kleinstadt, Ausreißer und Transness: Mit ihrem dritten Album „Wallsocket“ perfektioniert Underscores ihren genresprengenden, rebellischen Sound.
Von Christopher Bertusch
Bereits auf ihren ersten zwei Alben „Fishmonger“ und „boneyard aka fearmonger“ spielte Underscores mit den Genre-Grenzen: Die Gitarren-Riffs erinnern an Midwest Emo und Rock, ein Track wie „Loansharks“ endet in einem 24-sekündigen Dubstep-Breakdown. In ihrem mittlerweile dritten Album verfeinert sie diesen explosiven Mix und rundet ihn emotionaler als zuvor ab.
Generation Z in der Kleinstadt
Narrativ erinnert „Wallsocket“ an Alben wie Neil Youngs „Greendale“. In seiner Rock-Opera aus dem Jahr 2003 erkundet Young eine fiktive, amerikanische Kleinstadt an der kalifornischen Küste. Underscores situiert ihren Betrachtungsgegenstand in der ebenso fiktiven Stadt Wallsocket, Michigan und seziert detailliert die Leben ihrer Bewohner*innen im Kontext des aktuellen Jahrzehnts und der Generation Z. „Cops and robbers“ erzählt beispielsweise von einem Bankangestellten, der die letzten Dekaden seines Lebens an seine Arbeit verschwendete und als “Entschädigung” dafür seit 10 Jahren Gelder unterschlägt. Als Protagonistinnen des Albums dienen die drei Jugendlichen S*nny, Mara und Old Money Bitch. Letztere entstammt einer reichen Familie, während sich ihre Freundinnen den amerikanischen Traum erkämpfen müssen. Eigentlich träumen sie aber alle von einem anderen Leben fernab der Kleinstadt. Themen, die in Youngs Stadt der 2000er noch keinen Anklang fanden, werden in „Wallsocket“ frisch aufgetischt. In „Johnny johnny johnny“ trifft S*nny im Internet auf einen älteren Mann, der sie groomt. „You don’t even know who I am“ bespricht parasoziale Beziehungen, welche seit dem Auftreten des Internets häufiger werden. Immer wieder mit dabei: Sexualität, Feminität und Transness. Körper werden verformt, verletzt und verändern sich. Inmitten von körperdysmorphen Gedanken, wie in „uncanny long arms“ und den unverständlichen Blicken Anderer, verleiht Underscores durch ihre Spielfiguren auch ihrer eigenen Geschlechtsidentität Ausdruck. Nicht umsonst erinnert das Zäsur-Sternchen in S*nny’s Namen an einen Deadname, also den Geburtsnamen einer Trans-Person vor ihrer Geschlechtsanpassung.
Genre-Mix und Rebellion
Die Geschichte der drei Mädchen in der Kleinstadt endet mit einem erwartbaren Abschied voneinander. Dafür überrascht aber der Sound des Albums. Die auftauchenden Genres aufzulisten, würde zu lange dauern: Mit dabei sind auf jeden Fall Rock, Hip-Hop, Punk, (Hyper-)Pop, Funk, Electronic und weitere Gäste. Meist dient die Gitarre, elektrisch oder akustisch, als Grundbaustein für einen Klangteppich, der schon bald kreativ chaotisch wird. Underscores spielt mit Genres und Instrumenten, wählt Sound-Bites und Geräuschkulissen sorgsam aus und verbindet alles zu einem Album, das mit jedem Song einen neuen Sound und gleichzeitig eine einheitliche Erfahrung präsentiert. Durch den Beat in „You don’t even know who I am“ ziehen sich 4 Minuten lang die gleichen fünf Sätze im Loop und „Shoot to kill, kill your darlings“ erinnert an die futuristischen Sounds von Noise-Artists wie clipping. Das Zusammenspiel von Stimme und Musik in „Locals (Girls like us)“ erinnert an frühe YouTube-Remixes der 2000er. Plötzlich ertönt das Geräusch einer Flashbang, irgendwo wird eine Schrotflinte geladen und im Hintergrund flüstern die Bürger*innen der Stadt.
Underscores eigene Stimme ist überfrachtet mit Effekten und oft verzerrt. Die Produktion ist extrem gesättigt und an manchen Stellen kann die Gitarre schon gar nicht mehr erkannt werden. Sie singt alleine oder auch mal im Chor, in „Seventyseven dog years“ wird gerappt. Immer wieder klingt Underscores punkig, rebellisch und aufmüpfig. Ihr Sound ist gut und gerne schrill und überladen, er schreckt auch nicht davor ab, in den Kitsch einzutauchen. „Wallsocket“ ist laut, doch seine bombastischen Symphonien sorgen für ein emotionales Crescendo. Mehr als in den Alben zuvor sticht hier eine menschliche Verletzlichkeit hervor, mit der man sich leicht identifizieren kann.
Schwer zu beschreiben, wunderbar zu fühlen
Die Sounds von „Wallsocket“ zu beschreiben fällt schwer und wird diesem erfrischenden Album nicht gerecht. Gerade für Hörer*innen, denen die Künstlerin zuvor unbekannt war, könnte die Erfahrung zunächst abschreckend wirken, die Produktion fremdartig und die Stimmeffekte überladen. Doch die Fertigkeit Underscores’, diese Kollektion an Geräuschen zu einem stimmigen Bild zusammenzufügen, eine kohärente Geschichte zu erzählen und die gehörige Portion Emotionalität dazu zu geben, erleichtert die Weiterempfehlung.
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