Die Frequenz-Redaktion stellt die Musik vor, die sie 2023 am meisten begleitet, beeindruckt und bewegt hat.
Kara Jackson – Why Does the Earth Give Us People to Love?
Kara Jacksons Debütalbum ist oft so spärlich, dass das Gewicht ihrer Lyrik umso erschlagender wirkt. Die Singer-Songwriterin aus Illinois stellt sich existenzielle Fragen: Was ist der Wert der Liebe, wenn sie den Verlust nur umso schmerzhafter macht? Jacksons raues Timbre gibt ihre Zweifel und ihre Verletzlichkeit unverhohlen wieder. Die 24-Jährige bringt den Blues auf eindringliche Weise zurück in die Folk-Musik – und offenbart das Potential, dieses hervorragende Album in Zukunft noch kreativ zu überbieten.
Jessie Ware – That! Feels Good!
Dieses Album bewegt. Nicht emotional, denn es geht inhaltlich nicht um viel. Und, wie so oft bei guter Popmusik, muss es nicht um viel gehen. Nein, dieses Album bewegt körperlich. Jessie Ware singt und balzt mit verführerischer Finesse, mit ansteckender Leidenschaft. Währenddessen entfachen funkige Gitarren, glitzernde E-Pianos und prunkvolle Bläser-Arrangements einen tanzbaren Disco-Groove nach dem anderen. Diese zehn Songs sind der pure Hedonismus. „That feels good“ indeed!
Dina Ögon – Oas
Wenige Alben dieses Jahr klingen so organisch wie „Oas“ von Dina Ögon. In einer charmanten Hommage an die 70er verbindet das schwedische Quartett winterlichen Folk Rock mit verträumtem Soul und Bossa-Nova-Klängen. Doch die Band verliert sich nicht in purer Nostalgie, sondern experimentiert mit viel Chemie und Feingefühl. Dank der frischen, klaren Produktion kommt jede sprudelnde Komposition und jeder lockere Groove in vollem Detail zur Geltung.
Sampha – Lahai
Über sechs Jahre sind seit Samphas Debütalbum vergangen. Seitdem ist viel passiert: Er hat den Tod seiner Mutter verarbeitet und ist selbst Vater geworden. Auf seinem Zweitling „Lahai“ beleuchtet der Brite die Sinnfragen dieser neuen Lebensphase. Sampha schreibt mit beeindruckender Empathie und Spiritualität. Sein virtuoser Gesang fließt mit den vielschichtigen Kompositionen dieses Albums zusammen: In einem unbeständigen Klangbett aus Elementen von Soul, Trip Hop, Jazz und elektronischer Musik ruhen seine Stimme und sein Geist. Und versuchen zu heilen.
Billy Woods & Kenny Segal – Maps
Billy Woods kommt nicht zum Soundcheck, weil er gerade in der Dusche kifft. Danach vergisst er auf der Bühne seinen Text. Zwischen Flügen und Auftritten versucht er, über das Telefon seine Fernbeziehung aufrechtzuerhalten. Es sind Eindrücke aus dem entgrenzten Tour-Leben, die der New Yorker Rapper auf „Maps“ zu einer Art Reisetagebuch vereint. Seine Texte sind nachdenklich und karikaturesk, die Beats von Produzent Kenny Segal klingen hypnotisch und detailreich. „Maps“ ist das Werk eines orientierungslosen Kosmopoliten, der überall und nirgendwo zugleich ist.
Brutalismus 3000 – Ultrakunst
Dieser Sound straight aus Berlin-Neukölln ist gnadenlos. Diese Musik ist Kunst, Ultrakunst. Ein direkter Schlag ins Gesicht. Voller Effekte, harter Techno-Bässe und verzerrter Stimmen gegen die glatt polierte, steife Welt. Kokain, die Droge Berlin, Clubs, postsowjetisches Aufwachsen und 9/11. Brutal und innovativ irgendwo zwischen Punk, Techno und Gabber. Doch gleichzeitig so reflektiert, fast sensibel. Ohne an einer Stelle wirklich konkreter zu werden, drückt sich im Singen, Krächzen, Schreien von Victoria Vassiliki Daldas in wenig Textfetzen viel aus. Es sind die Probleme, Gedanken, ja das Lebensgefühl einer jungen, bunten, ekstatischen, leidenden Generation, die von der Lethargie über das Weltgeschehen verschluckt wird.
Verifiziert – ADHS
Wenn Veri aka Verifiziert aus Wien rappt, dann klingt das meistens sehr melodisch. Zu streichelnden Trap-Beats geht es hier um rastlose Nächte, die Gedanken an den Crush und den Nike-Tracksuit. Der pure Lifestyle in Vienna überschwemmt uns hier, wenig Geflexxe, viele Gefühle, keine Fronts. Das ist angenehm, genauso wie die Abwechslung auf dem Album. Auf schöne Refrains zum Mitsingen mit Gitarrenakkorden folgen griffige Rap-Parts zu House-Beats. Ein gelungenes Debüt, ein weiterer leichter, zeitgemäßer Lichtblick in der verstaubten hypermaskulinen Welt des deutschen Raps.
En Attendant Ana – Principia
Frische, dynamische Sounds kommen aus Paris von En Attendant Ana. Quicklebendig erklingt die Stimme von Margaux Bouchadon auf Englisch und Französisch. Die Gitarrenparts bringen guten Schwung rein und die Drums sind forciert bis verträumt. Eigentlich wenig spektakulärer Indie-Pop, sehr klassisch gehalten, orientiert an dem, was sich die letzten Jahre im Mainstream so herauskristallisiert hat. Doch gleichzeitig gut und leicht hörbar mit fließend-idyllischen Klanglandschaften. Einfach alles schnörkellos richtig gemacht und deswegen landet das Album in diesem Jahresrückblick.
Blur – The Ballad of Darren
Alt sind sie geworden, die Britpop-Legenden um Blur. Der Spirit ist nicht senil, aber langsamer, die Songs verhaltener, weniger überladen und laut, doch der richtige Riecher für den perfekten Sound ging nie verloren. Stimmige Indie-Kompositionen mit Instrumentals on Point. Damon Albarn klingt gefühlvoll, (britisch) kühl und gedämpft in seinen Gesangsparts wie nie zuvor. Reflektiert und mit poetischen Bildern zum Dahinschmelzen blickt die Band der harten Realität des Älterwerdens direkt und unverblümt ins Auge. Keine Kopie des jungen Blurs oder Verspinnen in nostalgischen Geschwüren, sondern würdevolles, musikalisches Altern: Die Londoner machen es par exellence vor. Doch es geht auch anders und mit mehr Elan und Nostalgie, aber trotzdem gelungen und gut, siehe Blink 182.
100 gecs – 10,000 gecs
100 gecs neuestes Album ist etwas weniger explosiv, weniger Hyperpop und vermutlich weniger einflussreich als ihr Debüt 2019. Und doch bietet es eine solch geballte Ladung an Spaß, dass all diese Gedanken schnell in den Hintergrund rutschen. Ähnlich nonsense-lastig wie zuvor bewegen sich ihre Lyrics zwischen Dorito-Eskapaden und Zahnoperationen hin und her, und ihr neuer, rockiger Sound fegt durch die Ohrkanäle. Auch dieses Mal bleiben 100 gecs in den Top 5 der Künstler, mit denen man am schnellsten die AUX-Rechte in der eigenen Freundesgruppe verliert.
Model/Actriz – Dogsbody
Masochismus, Sexiness und Queerness: „Dogsbody” ist gewalttätig, schrill und immer auch extrem groovy. Perfekter Noiserock, perfekt punkig und mit einer Stimme irgendwo zwischen poetischer Ansprache und leidenschaftlichem Aufschrei. Zwischen den verzerrten Tönen findet sich auch eine Menschlichkeit, die überraschend tief einsticht.
Liturgy – 93696
„93696” ist kein Album für die Party-Playlist, den gemeinsamen, romantischen Abend oder den Kaffeeklatsch. In diesem fast 90-minütigen Experimental-Metal-Album werden Hörgewohnheiten auf die Probe gestellt, denn die stetig geloopten Parts und ellenlangen Songs stürzen einen immer wieder in einen Pit aus Gitarren-Riffs, Schreien, Flöten und Chorgesang. Liturgy bereiten ihrem Namen alle Ehre und bewegen sich in ihrer eigenen zeremoniellen, euphorischen und vollkommen verrückten Dimension. Ihre Themen: gleichzeitig experimentell und zutiefst vertraut.
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