50 Jahre sind vergangen seit dem von der CIA und BND unterstützten Militärputsch in Chile. Somit sind es auch 50 Jahre seit der Ermordung des chilenischen Regisseurs, Musikers und Aktivisten Victor Jara. Ein Nachruf auf einen außergewöhnlichen Mann.
Von Moritz Remuta
“Yo no canto por cantar, ni por tener buena voz.” – „Ich singe nicht, um zu singen, oder weil ich eine gute Stimme habe.“ Dies sind die einleitenden Worte eines der letzten Lieder Victor Jaras. Es ist Jaras Erklärung für ein Jahrzehnt der unermüdlichen künstlerischen Tätigkeit, und gleichzeitig ein zu Tränen rührendes, prophetisches Vermächtnis eines Kämpfers, dessen Waffe die Musik war. Das Lied heißt „Manifiesto“, titelgebend für ein postum herausgegebenes Album, das an Militärkontrollen vorbei über die britische Botschaft aus Jaras Heimatland Chile geschmuggelt werden musste.
Im Roman „Das Geisterhaus“ von Isabel Allende, der die Geschichte Chiles bis zum Militärputsch 1973 nacherzählt, flieht die Figur Pedro Tercero, eine Hommage an Victor Jara, heimlich aus dem faschistisch beherrschten Land. Doch im echten Leben schaffen es nur die unveröffentlichten Tonaufnahmen des Sängers über die Grenze. Victor Jara wurde zu diesem Zeitpunkt schon von den Schergen des Putschisten Augusto Pinochet gefangen genommen, gepeinigt, gefoltert, ermordet, von einem Maschinengewehr niedergemäht. Seine vielleicht letzten Worte waren Zeilen des Liedes „Venceremos“, der Hymne des gewaltsam gestürzten Unidad Popular. Ein letzter Akt des Widerstands, ganz in Einklang mit seinem Manifest: „Que el canto tiene sentido cuando palpita en las venas del que morirá cantando.” “Denn ein Lied hat dann einen Sinn, wenn es in den Adern des Mannes pocht, der singend sterben wird.“
Plegaria a un Labrador (Aufruf an einen Bauern)
Um zu verstehen, wieso Victor Jara sang, wenn es nicht nur die Freude an der Musik war, oder seine tragende, emphatische Stimme, muss man sein Leben nachvollziehen. Geboren als quasi Leibeigener eines reichen Großgrundbesitzers, wurde er an die Musik durch seine Mutter herangeführt. Aufgrund der häufigen Abwesenheit des alkoholkranken Vaters musste sie jedoch den Lebensunterhalt hart erwirtschaften, erst als Erntehelferin, dann als Köchin und Marktfrau – bis sie bei der Arbeit tot umfiel. Victor war 15, lebte in den Slums der Hauptstadt Santiago de Chile. Von da an durch wenig getrieben, durchlief er ein Priesterseminar und eine Militärausbildung, ohne ein Ziel zu finden, für das es sich zu leben lohnte. Mitte der 50er Jahre, mittlerweile Student, fand er über den Universitätschor zurück zur Volksmusik seiner Mutter, darüber zur Kunst, zum Theater und zum Ballett. Er brach das Studium ab und begann einen rasanten Aufstieg als Schauspieler, später Regisseur, an den Theatern Santiagos.
Von Anfang an behandelte er in seiner Kunst persönliche Themen, die Not und das Elend seiner Kindheit auf den Latifundios (große Agrarflächen im Besitz reicher Oligarchen), in den Poblaciones (Slums an den Rändern der Großstädte), als Erbe von Ureinwohnenden, Bauern und Arbeiterinnen. Er war Mitglied der Kommunistischen Partei, zwar nicht politisch aktiv, aber nach den Erfahrungen seiner Kindheit musste seine Kunst politisch sein. Er stellte sich in Theaterstücken und ersten musikalischen Experimenten auf die Seite der Entrechteten, der Unterdrückten und Unfreien in Chile, weil er einer von ihnen war, weil er sie liebte. Er sang nach eigener Aussage „um [s]einer Traurigkeit oder [s]einer Heiterkeit Luft zu machen“ ob der Armut, die er erlebt hatte, und die Millionen in Chile noch immer erlebten, und der Liebe zu diesem Land und seinem Volk.
Vientos del Pueblo (Stürme des Volkes)
Gegen Ende der 1960er-Jahre entdeckten die Musiker:innen Chiles immer mehr ihre indigenen, traditionellen Instrumente, Rhythmen und Lieder wieder. Daraus entstand eine Bewegung: Nueva Cancion Chilena. Gruppen wie Inti-Illimani, Quilapayún, und Solisten wie Isabel und Angel Parra, inspiriert durch die langjährige Arbeit Violeta Parras, verbanden chilenische Volksmusik mit dem Kampf fürs chilenische Volk. Victor Jara war ein wichtiger Bestandteil des Nueva Cancion, wurde unter anderem geehrt, als er im Estadio Chile beim „Ersten Festival des Neuen Chilenischen Liedes“ einen Preis für sein Lied „Plegaria a un Labrador“ gewann, ein Lied welches die Bauern Chiles auffordert, sich zu erheben.
Gemeinsam mit diesen musikalischen Mitstreitenden wurde der Kommunist Jara aktiver in der chilenischen Politik, seine Musik revolutionärer, deren Macht als politisches Mittel er nun erkannte. Sie wurden zu den Stimmen der sich formierenden vereinten Opposition, des sogenannten Unidad Popular (UP), für das sie Lieder wie „Venceremos“ verfassten, und für Auftritte und Wahlveranstaltungen in alle Teile Chiles reisten. Mit ihrer Wiederbelebung chilenischer Kunst und Kultur versuchten sie, eine gesellschaftliche Grundlage für Veränderung zu schaffen. Alles mündete im Erfolg des Sozialisten Salvador Allendes, Kandidat des UP, bei den Präsidentschaftswahlen 1970.
Cuando Voy A Trabajo (Wenn ich zur Arbeit gehe)
Drei Jahre sollte dessen Regierung währen. Jahre, in denen Victor Jara weiterhin seine Musik dem Zweck der Agitation, der Unterstützung der chilenischen Unterschicht und der kulturellen Neuerfindung widmete. Jahre, in denen massivste Repressionen der reaktionären Kräfte Chiles und des Auslands Allendes soziale und wirtschaftliche Programme wie die Bekämpfung von Mangelernährung, behördlich festgelegte Preise und Verstaatlichungen von Kupferminen und Enteignungen von Großbesitz torpedierten. Jahre, in denen faschistische Parteien, unterstützt von Chiles Oberschicht, den USA und auch der BRD, Waffen ins Land schmuggelten, widerspenstige Generäle absetzten und ermordeten, Terror auf den Straßen in Stadt und Land verübten.
Es waren Vorbereitungen für eine gewaltsame Rückeroberung der Herrschaft Chiles, einen Militärputsch mit dem erklärten Ziel, die Macht aus der Hand des Volkes zu reißen und sie wieder den Oligarchen zurückzugeben. Dies geschah am 11. September 1973. Victor Jara kam einem Aufruf nach, der die Arbeiter:innen aufforderte, an ihren Arbeitsplätzen gemeinsam die Regierung gegen die Putschisten zu verteidigen. Jaras Arbeitsplatz, die Technische Universität, wurde erst vom Militär umstellt, dann nach einer Nacht der Belagerung gestürmt. Alle Anwesenden wurden festgenommen und zusammen mit Tausenden anderen ins Estadio Chile gebracht, wo Jara erkannt und isoliert wurde. Nach einigen Tagen der Folter, in denen seine Hände gebrochen wurden (eine grausame Verhöhnung seines Gitarrenspiels), er ein letztes Gedicht verfasste, ein letztes Mal trotzig sang, fand man seine Leiche am 16. September 1973 an Gleisen neben dem Stadion. Er wurde 40 Jahre alt.
Te Recuerdo, Amanda (Ich erinner mich an dich, Amanda)
Obwohl seine heimliche Ermordung, genau wie das gleichzeitige Verbot seiner Musik und das Moratorium der Nennung seines Namens in Chile die symbolische Macht des Sängers brechen sollten: Victor Jaras Erinnerung wurde und wird hochgehalten. Seine Witwe, Joan Jara, konnte als britische Staatsbürgerin fliehen. Sie war es auch, die die Tonbänder aus dem Land schmuggelte. Und sie war es, die Jaras Leiche identifizierte, seine 40 Schusswunden sah, und wie viele andere Flüchtlinge der Welt von der Grausamkeit des installierten chilenischen Regimes unter Pinochet berichtete.
Jara lebte somit weiter, als Märtyrer, seine Musik als Hymne des geknechteten Volkes von Chile. Hört man heute seine Lieder, bekommt man Gänsehaut – oder vergießt Tränen, wenn man das Schicksal Victor Jaras im Kopf hat. Die ersten Töne von „Manifiesto” sind unbeschreiblich in ihrer ominös vorausdeutenden Traurigkeit; das Lied wirkt wie ein Nachruf auf Chiles Freiheit. Sein „Aufruf an einen Bauern“, der entlang der poetischen Beschreibungen der Kraft des einfachen Volkes aufbrandet, bis sich diese Kraft musikalisch voll entfaltet. Die inspirierenden, melancholischen und gleichzeitig kämpferischen Lieder „Cuando Voy a Trabajo“ und „Vientos del Pueblo“, Zeugnisse der Standhaftigkeit des Künstlers und des UP im Angesicht der Übermacht des reaktionären Militärs und des Faschismus. Die sanften, persönlichen Songs wie „Te Recuerdo, Amanda“, in Gedanken an seine Mutter und Tochter, bissige und lustige Satire wie „Las Casitas del Barrio Alto“. Und die in die Zukunft blickenden, Hoffnung machenden Stücke, die noch heute auffordern, den Kampf für Freiheit nicht aufzugeben: „El Derecho de Vivir en Paz“ und „Caminando Caminando“
El Derecho de Vivir en Paz (Das Recht, in Frieden zu Leben)
Der lange Kampf gegen die Diktatur in Chile, gestützt durch internationale Solidarität, war in Teilen erfolgreich: Pinochet wurde in einem Volksentscheid, der eigentlich Formsache zur Bestätigung seiner Herrschaft auf Lebenszeit war, abgewählt. Doch 1998 wurde er zum Senator auf Lebenszeit ernannt. 2006 starb er, ohne je zur Rechenschaft gezogen worden zu sein. Die Verfassung Chiles ist bis heute die der Diktatur aus 1980. Die dem chilenischen Volk damals auferlegte neoliberale Wirtschaftsordnung, die Entfesselung des „freien“ Marktes, haben bis heute Bestand. Das Kupfer von gestern ist heute das Lithium unter den chilenischen Salzseen. Die von Pinochet ermöglichte Privatisierung des Wassers gefährdet in der Klimakrise nun akut die Versorgung der Bevölkerung Chiles. Die ultrarechten Kräfte in Chile relativieren, genau wie die in den USA und Europa, die Gräuel der Vergangenheit, wachsen und gefährden aufs Neue die Demokratie mit dem Schatten des Faschismus. 50 Jahre nach dem Tod Victor Jaras an ihn zu erinnern, bedeutet auch, nicht zu vergessen, für welchen Kampf er lebte und ermordet wurde. Seine Musik heute zu hören, bedeutet, die Universalität dieses Kampfes aufgezeigt zu bekommen, entflammt zu werden in dem Wunsch, die Worte „Nie wieder“ zu leben und auszuweiten auf Unterdrückung in der ganzen Welt.
Caminando, Caminando (Schreitend, Schreitend)
Dass der Weg zu Gerechtigkeit lang und gewunden sein kann, zeigt die Verurteilung der Verantwortlichen für die Ermordung Victor Jaras. Über 30 Jahre unbekannt, wurde nach fast zwei weiteren Jahrzehnten der Suche und verschiedenen Gerichtsverfahren nun endlich der Mörder des Sängers, mittlerweile in den USA lebend, verhaftet und an Chile ausgeliefert. Damit scheint Victor Jaras Geschichte zu Ende zu gehen. Es ist eine Geschichte, die stellvertretend stehen könnte für die Chiles, eigentlich ganz Südamerikas. Das Land und der Kontinent schreiten aber weiter voran auf der Suche nach Gerechtigkeit und Freiheit. In den Worten Victor Jaras: „ Caminando, caminando… Voy buscando libertad, ojalá encuentre camino para seguir caminando.” “Schreitend, schreitend… Nach Freiheit suchend, hoffentlich finde ich einen Weg, um weiter zu gehen.“
Was denkst du?
Kommentare anzeigen / Kommentar hinterlassen