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Von klammernder Heimat und langsamer Hoffnung

13. Februar 202410 Min. gelesen

Lange war er ein schön geredeter Geheimtipp, inzwischen verkauft er ganze Stadien aus. Der 27-jährige Musiker Noah Kahan aus Vermont hat die Indie-Szene fest im Griff – und die Welt steht für ihn Kopf. Ein Überblick über Errungenschaften, Effekte und Erlebnisse.

Leicht grinsend steht er schlaksig auf dem roten Teppich. Neben ihm seine Mutter, die ihm rettend einen Arm anbietet, hinter ihm zahlreiche Talente aus der Musikwelt. „It’s glam o’clock“, scherzelt er mit Vanity Fair, mit MTV spricht er kurze Zeit später über den Traum einer Zusammenarbeit mit der Band Boygenius. Noah Kahan, als bester neuer Künstler nominiert, kann seinen momentanen Alltag dennoch wohl am wenigsten glauben.

Aller Anfang ist jung

Dabei hat er gar nicht so klein gestartet. Schon vor fünf Jahren machte sich Kahan einen Namen mit Folk-Pop-Songs wie „False Confidence“ oder „Young Blood“. Damals war er 22 Jahre alt, noch heute verhält er sich verschmitzt und versteht nicht viel vom Medientraining. Und doch lieben ihn anscheinend gerade alle, die Zahlen steigen durch die Decke, die Begeisterung auch aus eigenen Reihen ist bemerkenswert. 

Als er vor etwas über einem Jahr mit seinem dritten Studioalbum „Stick Season“ vorlegte, stand die Indie-Welt für einen kurzen Moment still. Und rauschte dann in ein schreiendes, mitgröhlendes, fieberndes Publikum, das sich seither nicht beruhigen konnte. Konzertkartenpreise hüpften im Sekundentakt vom unteren in den oberen, noch zweistelligen Bereich; ganze Stadien werden wahrscheinlich wie in der heutigen Fankultur üblich ganze Stunden vor seinem Auftritt auf ihr neues Idol warten. Doch was genau verbirgt sich eigentlich hinter dem Künstler Noah Kahan?

Bild: Aysia Marotta

Mehr als nur die Nummer 1 (auf Spotify)

Verständlichkeit. Ein Wort, das die aktuelle Situation rund um den „Dial Drunk“-Star am ehesten beschreibt. Verständlichkeit, die sich nicht nach den ersten fünf Minuten langsam aus dem Staub macht. Nein, Verständlichkeit, die von Vergangenheitsängsten, von  besiegter Alkoholabhängigkeit und von suizidalen Gedanken nicht ausgeschlossen wird. Noah Kahan öffnet sein Herz der Allgemeinheit, und sie dankt es ihm.

Besonders klar wird das etwa in „Call Your Mom“: Achtzig Meilen die Stunde, vorbeirasende, im Dunkeln verschwundene Landschaften – und die dämmernde, beklemmende Furcht, bald in Trauer zu geraten.

Doch Kahan war nicht nur bereits an diesem Ende der Leitung, er stand auch schon auf der anderen Seite, „I’ve been exactly where you are“. Eine Vergangenheit geprägt von Depressionen und Ängsten, über die Kahan nicht schweigt. Das bringt Kraft, das inspiriert. Er appelliert:

„All lights turned off can be turned on“

Das sei noch nicht das Ende, er sei auf dem Weg, er würde die ganze Nacht lang fahren und zur Rettung eilen. Und so sollen auch seine Zuhörer:innen sich für sich selbst Zeit nehmen, sich selbst zu retten, die Nacht lang durchzufahren, um nicht aufzugeben.

So verzwickt positiv und zukunftsorientiert sind jedoch nicht alle Songs auf dem Album. „The View Between Villages“, das ebenfalls als extended version existiert, betont etwa die Stilllebigkeit, das Steckengebliebensein im alten Heimatort. „A minute from home, but I feel so far from it / The death of my dog, the stretch of my skin / It’s all washing over me, I’m angry again“, singt er inbrünstig, der Schmerz sticht in die eigene Seele. Der perfekte Song zum Autofahren, um einmal seinen Frust so richtig rauszulassen – Indie-Style.

Nach Regen kommt Sonnenschein

Stick Season, das ist übrigens die Übergangsphase zwischen Herbst und Winter in Vermont. Der kleine Ort Strafford in Kanada ist Kahans Zuhause – und das kann man in jedem zweiten Song heraushören. „And I love Vermont, but it’s the season of the sticks“, singt er im namensgebenden Song. Der allgemeine Tenor lautet: Das Früher sollte das Heute wieder sein, und das im negativen Sinne. Das Kleinstadtleben prägt, es zieht runter, es sorgt für Heimweh. Zu diesem Gefühl tragen auch „Homesick“ oder „Northern Attitude“ bei.

Bild: Aysia Marotta

Doch Frustration oder in Liedern verarbeitete Traurigkeit sind längst nicht alle Emotionen in diesem Achterbahn-Album “Stick Season”. So singt er eine Ode an die Liebe in „All My Love“; in „Orange Juice“ adressiert er eine fiktive, geliebte Person – oder stellt er sich nicht am Ende selbst dar? Mit einer Sanftheit in der Stimme erklärt er, dass niemand sie in Versuchung bringen würde, es wüssten doch alle, dass sie dem Alkohol erfolgreich die Stirn geboten habe, und es gäbe Orangensaft in der Küche: „It’s yours if you want it, we’re just glad you could visit“. Das Leben hat eine unerwartete Kurve genommen, doch Kahan heißt sein Gegenüber mit offenen Armen willkommen, fängt ihn oder sie auf, und akzeptiert sich und sein Schicksal im Grunde selbst.

Nach und nach reihen sich alle ein

Es fing als Witz an und endete als Realität. „Folk Malone“ wird Noah Kahan vergangenes Jahr lange auf Social Media genannt. Doch dann – die Überraschung ist groß, die Euphorie größer, als er seine erste Kollaboration des Albums verkündet: Post Malone. Die meisten glauben ihren Augen kaum, die übrigen fangen an zu lachen. Die beiden Malones, zusammen hinter dem Mikrofon.

In dem Song, „Dial Drunk“, ist der Erzähler, Kahan, dieses Mal der Bösewicht. Er manipuliert und beleidigt die andere Person, wirft ihr vor: „Even the cops thought you were wrong for hanging up / I dial drunk, I’ll die a drunk / I’ll die for you“. Allein das Lesen der Lyrics führt zu beklemmenden Gefühlen, dieser Zwang, diese Schuldzuweisung sind nicht nur aus dem Leben gegriffen, aber ebenso zu verurteilen. Kahan erstickt jegliche Gehirngespinste online im Sand und schreibt, dass er absichtlich und eben als Künstler den Antihelden in den Mittelpunkt gerückt habe – mit dem Gesungenen identifiziere er sich nicht auf einer persönlichen Ebene.

Die Veröffentlichung mit Post Malone war im Juli 2023 nur der Anfang. Nach und nach reihen sich die großen Namen ein, es kommt zu gemeinsamen Releases mit Lizzy McAlpine, Kacey Musgraves, Hozier (der Aufschrei und die Hoffnung nach einer zukünftigen Single der Beiden ist groß, eher riesig; was war das auch für ein Schrei?), Gracie Abrams. Es hört nicht auf. Vor wenigen Tagen erscheint Kahans letzte Version von „Stick Season“. Als letzte Überraschung, letztes Geschenk an Musikliebhaber:innen, holt er Brandi Carlile und Gregory Alan Isakow zum Abschluss mit ins Boot. Insgesamt hat das Album nun neun Musiker:innen an seiner Seite, die alle mit Individualität die Songs neu interpretieren. So etwa Sam Fender, der auf „Northern Attitude“ seine eigene Strophe bekommt – und mit rauer Stimme von dem Aufwachsen in den 90iger Jahren in Irland singt:

„Static cranes stand lifeless, castin’ shadows on the town / I stare at that hollowed ocean as if to pick a fight“.

Mit einem letzten neuen Song, „Forever“ (zuvor auf Social Media viral gegangen), schließt Noah Kahan das Kapitel der Stick Season nun ab. Er ist als „Folk Malone“, als neuer Folk-Superstar bekannt. Während viele dachten, Hoziers Anerkennung, ja sogar Bewunderung, wären der Höhepunkt von Kahans Karriere, ist dieser noch nicht in Sicht. Bei der Verleihung der Grammys geht er leer aus – doch das Internet explodiert, als beispielsweise Fotos von Kahan und Boygenius auf dem roten Teppich viral gehen. Und wer weiß, vielleicht gewinnt er für sein nächstes Album den Preis für das Album des Jahres. Hoffen kann man ja, so lehrt er es uns selbst.

Bild: Aysia Marotta

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Annika Block - Redaktion

Zwischen Alltagsstress und Unidruck so oft es geht auf Indie-Konzerten, in der Sonne mit einem Buch in der Hand oder am Abgehen zu „You Can Call Me Al“ zu finden. Täglich am neue Musik entdecken – und am besten direkt darüber schreiben.

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